Aus hunderten Krankenakten werden Datensätze: Mit künstlicher Intelligenz und Algorithmen sollen verborgene Muster im menschlichen Organismus entdeckt werden. Die Voraussetzung: Patienten, die bereit sind, sie herzugeben.

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Manchmal reicht die menschliche Denkkraft einfach nicht aus. Wenn es darum geht, die Entstehung von Krankheiten nachzuvollziehen, sind Forscher schnell mit einer ganzen Reihe von Problemen konfrontiert. Groß war die Hoffnung, als der US-Biochemiker Craig Venter im Jahr 2000 das menschliche Genom entschlüsselte und es schaffte, den Bauplan des Menschen in mathematischen Zahlen darzustellen. Krankheit, so dachte er und alle anderen, müsse doch irgendwo im Bauplan des Lebens verankert sein.

20 Jahre später sagt Venter bei einem seiner seltenen Auftritte in Europa anlässlich einer Wissenschaftskonferenz in Darmstadt: "Es gibt keine einheitliche Vorlage für die DNA des Menschen, jeder Mensch ist mathematisch betrachtet eine individuelle Lösung." Die Umwelt und das persönliche Umfeld eines Menschen seien maßgebliche Einflussfaktoren für die DNA, so Venter, sie ist wandelbar und anpassungsfähig. Zudem habe die Wissenschaft auch die lebenszeitliche Komponente unterschätzt. Mitunter können Einflüsse in der Kindheit erst viel später im Leben eines Menschen Wirkung zeigen, sagt einer, der "das Leben als DNA-Softwaresystem" bezeichnet.

Testfeld Onkologie

Hinweise, dass Craig Venter recht hat, bestätigen sich vor allem in der Erfahrung der Onkologen. In den letzten Jahren ist man übereingekommen, dass Brustkrebs nur der Sammelbegriff für eine Vielzahl vollkommen unterschiedlicher Erkrankungen im gleichen Organ ist und dass sich die Entartung von körpereigenen Zellen nicht an Organgrenzen hält. "Urologen und Gynäkologen werden viel voneinander lernen", prognostiziert Onkologe Michael Krainer von der Universitätsklinik für Innere Medizin der Med-Uni Wien. Er beschäftigt sich mit den Signalwegen von Krebserkrankungen und ist überzeugt, dass es viele Gemeinsamkeiten in der zellulären Regulierung zwischen männlichen und weiblichen Geschlechtsorganen gibt.

Der einzige Weg, solch grundlegend neue Bezüge im menschlichen Körper zu entdecken, sind klinische Studien. Stellten früher Menschen ihren toten Körper der Wissenschaft zu Forschungszwecken zur Verfügung, geht es heute um Real-Life-Daten. Wie lässt sich das Leben in Daten gießen, ist dabei die Kernfrage, auch was den Lebensstil anbelangt. Bewegung, Ernährung, Bildung, Stressfaktoren, Wohnort, soziale Verhältnisse, Umwelteinflüsse: All das kann für eine umfassende Sicht auf die Krankheit entscheidend sein.

Neue Erkenntnisse

Langfristig geht es darum, solche Faktoren mit den genetischen Informationen in Relation zu setzen. So jedenfalls sieht es Craig Venter. Die große Hürde dabei ist, wie solche Faktoren zu Daten gemacht werden. Einstweilen passiert das in einer sehr reduzierten Form im Rahmen von klinischen Studien. Allein: "Viele Patienten haben Vorbehalte, bei so etwas mitzumachen", kann Krainer berichten. "Die Idee, ein Versuchskaninchen zu sein, ist fix verankert, allerdings nur in unserem Kulturkreis, im angelsächsischen Raum ist das unbekannt", weiß er.

Dabei würden Patienten, die an klinischen Studien teilnehmen, besonders viel Aufmerksamkeit bekommen. Denn es geht ja in Studien darum, die Wirkung eines neuen Medikaments zu beweisen. Dazu gehört heute nicht nur die Genomanalyse, sondern auch ausführliche radiologische Untersuchungen sowie doppelt und dreifach überprüfte Laborwerte. Die Real-Life-Daten werden einstweilen über Fragebögen ermittelt, um diese eben bislang vernachlässigten Faktoren mit in die medizinische Beurteilung einfließen zu lassen. "Viele Menschen haben Angst, dass sie bei diesen Studien vielleicht nur ein Placebo (Scheinmedikament, nicht der tatsächliche Wirkstoff, Anm.) bekommen", berichtet Krainer, der betont, dass jeder Studienteilnehmer stets die Standardtherapie plus ein neues Medikament bekommt. "Und wenn sich ein Wirkstoff im Rahmen der Studie als sensationell erfolgreich herausstellt, wird die sogenannte Verblindung auch aufgehoben und jeder bekommt das Medikament", so Krainer. Was er sich wünscht, sind motivierte Patienten, die bereit sind, bei so etwas mitzumachen.

Gute Kliniken

Je mehr Studienteilnehmer, umso relevanter sind die Ergebnisse. Zum einen werden klinische Studien heute in vielen Ländern parallel durchgeführt, zum anderen sind nicht nur Unikliniken, sondern auch kleinere Krankenhäuser in klinische Studienprogramme integriert. "Ein Spital, das als Brustgesundheitszentrum zertifiziert ist, signalisiert auch, dass es am medizinischen Fortschritt mitwirken will", sagt Leopold Öhler, Leiter der Onkologie im St.-Josef-Krankenhaus in Wien. Ein Spital, das an klinischen Studien teilnimmt, muss Ärzte und Pflegekräfte schulen und Ressourcen zur Verfügung stellen, auch die Teilnahme an internationalen Kongressen gehört dazu. Denn dort werden die Ergebnisse klinischer Studien zu neuen Medikamenten veröffentlicht – ein mit Spannung erwarteter Moment, der die Behandlung von Patienten massiv beeinflussen kann.

Den richtigen Patienten die richtigen Therapien zu verabreichen: Das ist Präzisionsmedizin und State of the Art. Richtig kann bedeuten, das Rückfallrisiko von Patienten mithilfe eines Medikaments zu senken – Patienten leben dann länger. "Es gibt viele Signalwege in einem Tumorgeschehen. Entscheidend ist, die treibende Mutation zu erwischen", ist Öhler überzeugt. Sein Nachsatz: "Die Lebensqualität ist dabei entscheidend, es bringt nichts, wenn Wirkstoffe die Krebszellen lahmlegen und den ganzen Menschen aber auch", sagt er. Auch er motiviert Patienten, an klinischen Studien teilzunehmen. Mitunter sei es schwer, sie zu überzeugen, weil es ja oft Jahre dauert, bis die Ergebnisse vorliegen, sagt er. Patienten sind damit Teil des medizinischen Fortschritts, der Erkenntnisgewinn kann mitunter über die Lebenszeit hinausgehen.

Frage der Einstellung

Worin der Biochemiker Craig Venter die Zukunft sieht: "Wir wollen die Allele finden, die vor Krankheiten schützen", sagt er. Also ginge es eigentlich auch darum, Gesunde zu untersuchen.

Weil Medizin im 21. Jahrhundert zunehmend aus Datenanalysen besteht, wird in der Medizin Datenschutz ein großes Thema werden. Da sind die Gesetze von Nation zu Nation unterschiedlich. In Schweden zum Beispiel ist das Sammeln von persönlichen Gesundheitsdaten eine Selbstverständlichkeit. "Wir nutzen die Sozialversicherungsnummern, um damit Register für verschiedene Krankheiten aufzubauen", sagt Johann Liwing vom Pharmakonzern Janssen und sieht darin auch eine Chance für Fortschritte in der personalisierten Medizin. "Wir Schweden vertrauen in den Staat, wir denken, dass er immer nur das Beste für seine Bürger will", sagte er unlängst in einem Vortrag am Karolinska Institutet in Stockholm und weiß als Vertreter eines international tätigen Konzerns von großen Einstellungsunterschiede berichten.

Das habe, sagt er, kulturelle Gründe. Schweden hat über 200 Jahre keinen Krieg mehr erlebt und hat deshalb eine positive Grundeinstellung zum Staat, in Deutschland und Österreich sei das wohl grundlegend anders, vermutet er. "Wir denken nicht einmal an Missbrauch", sagt er. Das ist ein Vorteil, denn Real-Life-Data ist auch in der Medizin der neue Rohstoff für Erkenntnis. Und deshalb braucht man kranke und gesunde Menschen, die bei Studien mitmachen. Damit zukünftig Krankheiten geheilt werden können. Vielleicht sogar Krebserkrankungen. (Karin Pollack, 11.9.2018)