Robert-Jan Smits ist der Kopf hinter den radikalen Plänen, wissenschaftliche Artikel für alle zugänglich zu machen.

Europäische Kommission

Das offene Vorhängeschloss ist das Symbol für Open Access, den freien Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnisse – ohne Paywall für Forscher und Interessierte aus der ganzen Welt.

PLOS

Groß war die mediale Aufregung, als im Juni eine internationale Gruppe von Investigativjournalisten aufdeckte, dass in der akademischen Welt sogenannte "predatory publishers" (mehr schlecht als recht mit "Raubverlage" übersetzt) gegen Geld buchstäblich jeden Unsinn in fragwürdigen Zeitschriften mit wissenschaftlich klingenden Titeln abdrucken.

Gewiss, das Problem solcher Pseudozeitschriften existiert, und insbesondere unerfahrene Wissenschafter fallen immer wieder auf die lockenden Spam-E-Mails dieser "Raubverlage" herein. Doch all jenen, die sich mit dem wissenschaftlichen Publikationswesen etwas besser auskennen, mussten diese journalistischen Aufdeckungen im Frühsommer wie ein Ablenkungsmanöver von einem sehr viel größeren Problem erscheinen: dem Oligopol der seriösen Wissenschaftsverlage.

Der wissenschaftliche Zeitschriftenmarkt mit einem Umsatz von rund zwanzig Milliarden Euro ("Raubverlage" machen eher weniger als ein Prozent aus), wird nämlich von einigen wenigen Marktführern dominiert. Und diese Multis streifen trotz Digitalisierung und angeblicher Verlagskrise unverschämte Renditen ein, wie der vor wenigen Tagen veröffentlichte Dokumentarfilm "Paywall. The Business of Scholarship" eindrucksvoll vor Augen führt.

Prädikat unbedingt sehenswert: Die Anfang September veröffentlichte Open-Access-Dokumentation "Paywall. The Business of Scholarship" von Jason Schmitt zeigt auf, wie die Profite der Verlagsmultis zustande kommen und welche Schäden das anrichtet.
Paywall The Movie

Gewinnspanne: 37 Prozent

Der Branchenprimus Elsevier etwa, der 2500 seriöse wissenschaftliche Zeitschriften herausgibt, erlöste 2017 umgerechnet 2,78 Milliarden Euro und machte dabei einen Gewinn von etwas mehr als einer Milliarde. Das sind sagenhafte 37 Prozent. Zum Vergleich: Das indische Unternehmen Omics, einer der bekanntesten und größten "Raubverlage", machte mit seinen rund 350 wertlosen Zeitschriften 2016 einen Umsatz von nicht einmal elf Millionen Euro. Fragt sich, wer jetzt der echte "Raubverlag" ist.

Für den Niederländer Robert-Jan Smits, von 2010 bis 2018 Generaldirektor für Forschung und Innovation der Europäischen Kommission, ist dieses wissenschaftliche Publikationssystem in der heutigen Form schlicht und einfach "verrückt", wie er im Interview mit dem STANDARD in perfektem Deutsch klarstellt. Deshalb will er dieses System so schnell wie möglich ändern.

Dieses Ziel hatten schon viele andere Wissenschafter und Forschungspolitiker vor Smits, der nun Chefberater der EU für Open Access und Innovation ist. Doch seitdem er am 4. September seinen Plan S vorstellte, ist er der Erste, dem realistische Chancen eingeräumt werden, das System tatsächlich zum Kippen zu bringen.

Gewinnmaximierung mit Steuergeld

Warum das dringend nötig wäre, liegt für Smits und viele andere Verfechter von Open Access, also dem freien Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen, auf der Hand: Noch bedienen sich die Verlagsmultis, zu denen neben Elsevier auch noch Springer Nature, Wiley-Blackwell, Taylor & Francis oder Sage gehören, gleich mehrfach an öffentlichen Geldtöpfen, ohne die von den Forschern erzeugten Erkenntnisse auch für die Öffentlichkeit freizugeben – oder meist nur gegen die Bezahlung von noch mehr Geld.

Am Beginn der Wertschöpfungskette stehen in der Regel Forschungsprojekte, die meist von der öffentlichen Hand finanziert wurden und die dann zu Publikationen führen. Diese Forschungsergebnisse in Artikelform werden dann von anderen Wissenschaftern für die Verlagsmultis gratis begutachtet. Und schließlich zahlen wissenschaftliche Bibliotheken, die meist von der öffentlichen Hand finanziert sind, Unsummen für Zeitschriftenabos. Als Draufgabe zahlen die Forscher bzw. ihre Institutionen dann noch einmal vierstellige Beträge, wenn sie ihre eigenen Texte im Netz gratis verfügbar machen wollen.

"Es ist unglaublich, dass sich dieses System so lange halten konnte", sagt Smits, der dabei auch eine Mitschuld bei den wissenschaftlichen Institutionen sieht. Vor allem sind es aber die Praktiken der Verlagsgiganten, die zu den Profitsteigerungen auf Kosten der Steuerzahler geführt haben: So schließt Elsevier seine meist länderweisen Verträge mit Universitätsvertretern ab – stets mit der Klausel, über die vereinbarten Summen Stillschweigen zu bewahren. Man kann sich vorstellen, wem diese Strategie nützt.

Das Revolutionäre am Plan S

Die Grundidee zu seinem Plan S ("S steht wahlweise für science, speed oder shock") kam Smits vor zwei Jahren bei der Frankfurter Buchmesse, als er ein Treffen mit Vertretern der Verlagsmultis hatte. Smits wollte en passant wissen, wie die Verlage mit der Bedingung der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung umgehen, wonach die Ergebnisse von Forschungsprojekten, die von der Stiftung gefördert werden, nur in Open-Access-Zeitschriften publiziert werden dürfen – also solchen Journalen, die gratis für alle zugänglich sind. Das sind aktuell nur rund 15 Prozent aller Zeitschriften und gerade nicht die renommierten Fachblätter wie "Nature", "Science" oder "Cell". Die Antwort der Verleger sei gewesen: "Der Forschungsförderer entscheidet."

Und genau da setzt nun die Strategie von Smits an: Er hat in den letzten Monaten die in der Dachgesellschaft Science Europe organisierten Forschungsfonds von elf EU-Mitgliedsstaaten – darunter der gleich zu Begin der österreichische Wissenschaftsfonds FWF und die Schwesterinstitutionen in Großbritannien, Frankreich oder den Niederlanden sowie den prestigereichen Europäischen Forschungsrat (ERC) – für eine radikale Idee gewonnen: Ab 2020 muss jeder Artikel, der aus den von ihnen geförderten Projekten hervorgeht, sofort ab Publikation von den Zeitschriften gratis verfügbar gemacht werden und nicht erst nach einiger Zeit. Publikationen in sogenannten Hybrid-Open-Access-Zeitschriften, die nur einen Teil der Artikel frei zugänglich machen, sollen nach einer kurzen Übergangsfrist ebenfalls untersagt werden.

Die elf Länder sollen aber bloß der Start sein: Smits, der für seinen Plan S in den letzten Monaten kreuz und quer durch Europa reiste, will auch die Verantwortlichen des EU-Programms Horizon Europe und weitere Wissenschaftsfonds in Deutschland, Finnland, Schweiz und Schweden zum Mitmachen überreden. Außerdem führt er demnächst Gespräche mit großen privaten Forschungsförderern wie dem britischen Wellcome Trust oder der deutschen Volkswagenstiftung, die er ebenfalls mit an Bord holen möchte. Auch bei Forschungsförderern in den USA zeige man Interesse am Plan S.

Gefährdung der Forschungsfreiheit?

Dem in Deutschland immer wieder geäußertend Argument, dass diese Verpflichtung, nur in frei zugänglichen Zeitschriften zu publizieren, die Forschungsfreiheit gefährde, kann Smits im Zusammenhang mit dem Plan S nicht verstehen: "Erstens wird kein Wissenschafter gezwungen, um ein Forschungsprojekt anzusuchen. Und zweitens verpflichten sich die Forscher bei diesen Projekten zur Einhaltung aller möglichen ethischen Standards. Und dazu soll nun eben auch gehören, die Ergebnisse frei zugänglich zu machen." Ausnahmen soll es laut Plan S vorläufig nur für wissenschaftliche Bücher geben.

Vorsichtshalber hat Smits aber auch viele Gespräche mit jungen Forschern und ihren Vertretern geführt: Sie unterstützen im wesentlichen die Pläne, wollen aber nicht zu Opfern des Umbruchs werden: Für die weitere Karriere sind bisher Artikel in Zeitschriften mit einem hohen Impactfaktor entscheidend. Doch in vielen dieser Fachblätter darf laut Plan S nun nicht mehr publiziert werden – außer, die Zeitschriften ändern ihre Publikationspraxis, was das eigentliche Ziel ist. "Das unterstreicht einmal den nötigen Wandel in der WIssenschaftskultur, der in der so dringend nötig ist", sagt Smits. Vor allem sei es nötig, sich vom Fetisch der Impactfactoren zu lösen, mit dem Elsevier und Co. ihre Machtstellung bis heute legitimieren – und gleichzeitig mit Publikationsdatenbanken wie Scopus noch einmal absichern.

Erste Anzeichen des Wandels

Die ambitionierten Pläne haben in den letzten Tagen ein kleines Beben in der Wissenschaftswelt ausgelöst. Smits hat Dutzende E-Mails von Forschern aus der halben Welt erhalten, die sich für die Initiative bedanken. "Nature" und Science haben sofort mit langen Artikeln darauf reagiert, und die Vereinigung wissenschaftlicher Verleger nahm knapp und kritisch Stellung: Der Plan könnte die akademische Freiheit einschränken, und der Zeitplan sei zu knapp.

Womöglich sind die Zeiten der fetten Profite – zumindest mit dem bisherigen Geschäftsmodell – nun wirklich vorbei. Das Momentum für einen radikalen Wandel in der Verlagswelt könnte tatsächlich groß genug sein, wie Branchenkenner vermuten: Im Mai scheiterte der Börsengang des Multis Springer Nature, der 3000 Zeitschriften in seinem Portfolio hat. Und Elsevier hat seit Jahresbeginn keine Verträge mehr mit Deutschland und Schweden, wo man sich weigerte, die geforderten Beträge zu zahlen. Seit Juli haben viele Forscher dieser Länder deshalb keinen offiziellen Zugang mehr zu Elsevier-Zeitschriften. Doch anscheinend geht es auch ohne. (Klaus Taschwer, 11.9.2018)