Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán hat das EU-Parlament für die mögliche Einleitung eines EU-Rechtsstaatsverfahren scharf kritisiert.

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In Malta protestierten NGO-Mitarbeiter mit blutigen Händen gegen den ungarischen Premier Viktor Orbán, Maltas Premier Joseph Muscat und den italienischen Innenminister Matteo Salvini.

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Viktor Orbán liebt die Macht, die er da und dort bis zum autoritären Missbrauch dehnt. Mehr noch genießt es der ungarische Ministerpräsident, bei einer aufgeheizten Kontroverse im Mittelpunkt zu stehen, hart attackiert von besonnenen Kritikern wie erklärten Gegnern.

Dieses Phänomen ließ sich am Dienstag – zum wiederholten Male seit 2010 – im Plenum des Europäischen Parlaments gut beobachten. Dort ging es um eine sehr, sehr ernste Sache für Ungarn. Wochenlang war im Vorfeld darüber debattiert worden, ob man ein Artikel-7-Verfahren wegen "schwerwiegender Verletzung der Grundwerte der Union" durch die Regierung in Budapest anstoßen soll.

Juristisch gesehen handelt es sich dabei um die wohl schärfste Sanktion, zu der die EU-Partner gegen ein Mitgliedsland greifen können: den Entzug von Stimmrechten im Rat. Das wäre der Fall, sollten die Staats- und Regierungschefs am Ende eines komplex abgesicherten Verfahrens zu der Erkenntnis kommen, dass die Regierung in Budapest bewusst, wiederholt und ohne Einsicht das Allerheiligste der Union negierte: das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, die Herrschaft des Rechts, die unveräußerlichen Grund- und Freiheitsrechte.

Wenn diese Säulen einer zivilisierten Gesellschaft eingerissen werden, dann kann die Gemeinschaft einpacken. Dann werden am Ende Freiheit und Sicherheit der Menschen zu beliebigen Begriffen. Dann ist nicht mehr sicher, dass der einzelne Bürger zu seinem Recht kommt. Dann besteht die Gefahr, dass man in Willkür abgleitet.

Über all das wollten die EU-Abgeordneten diskutieren, gestützt auf einen kritischen Bericht, zu dem gleich vier Ausschüsse beitrugen.

Rundumbeschimpfung

Man hätte also annehmen können, dass ein verantwortungsvoller Regierungschef eines noch relativ jungen, kleinen EU-Landes wie Ungarn alles versucht, um ein Verfahren abzuwenden, umso mehr, als Orbán sich selbst zu der Debatte eingeladen hatte. Sein Redebeitrag bewirkte dann aber, gezielt und geplant, das genaue Gegenteil.

Orbán holte zu einer Art von Rundumbeschimpfung der EU-Partner, der Abgeordneten und der Kommission aus, wie man sie in Straßburg noch nie erlebt hat. Es war fast beklemmend zu erleben, wie da jemand behauptet, die EU wolle "Freiheitskämpfer des Widerstands" verurteilen, "die Ehre des ungarischen Volkes verletzen", "dem konstruktiven Dialog einen Schlag versetzen". Der Premierminister sprach mitten im Haus der Bürgerkammer so, als befinde er sich in Feindesland, als ginge es dort allen einzig und allein darum, "das ungarische Volk" zu demütigen. Orbán setzte sich mit allen Ungarn gleich: ein Volk, ein Führer.

Es zeigt sich nun, dass in Wahrheit nicht nur das EU-Parlament, sondern vor allem auch die Kommission und die EU-Partnerstaaten viel zu lange zugeschaut haben, wie die Regierung Orbán seit 2010 stückweise immer weiter vom Grundkonsens der EU-Verträge weggedriftet ist, ohne Wirkungsvolles dagegen zu unternehmen. Orbán hatte bei Einwänden aus Brüssel bisher immer wieder Kompromisse gemacht, Gesetze angepasst, eingelenkt.

So wie er heute auftritt, versteht er nicht mehr, dass es weder um ihn noch kollektiv um die Ungarn geht, sondern darum, ob die Union überall auf denselben Prinzipien und Werten fußt. Um das festzustellen, muss eine Gemeinschaft sich selbst prüfen. Das Ungarn-Verfahren kommt viel zu spät. (Thomas Mayer, 11.9.2018)