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Die Demonstranten forderten Unabhängigkeit von Spanien.

Foto: AP/Emilio Morenatti

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Die Avinguda Diagonal ist voll.

Foto: AP/ANC/Roser Vilallonga

Punkt 17.14 Uhr schweigt die riesige Menge, die in Barcelona, der Hauptstadt Kataloniens, sechs Kilometer der breiten Avinguda Diagonal füllt. Laut Polizeiangaben war es mehr als eine Million. Die rot-gelben Fahnen der Unabhängigkeitsbewegung mit Stern auf blauem Grund flattern in der leichten Brise. Fast alle hier tragen ein rotes Shirt mit der Aufschrift "Machen wir die katalanische Republik".

Demo am Nationalfeiertag für ein unabhängiges Katalonien.
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Der Zeitpunkt erinnert an 1714. In jenes Jahr fiel Barcelona am 11. September im Erbfolgekrieg, und Katalonien verlor – so die offizielle Interpretation der Befürworter der Loslösung von Spanien – seine Unabhängigkeit. Dann Applaus und ein Schrei, der von einem Ende wie eine Welle die breite Avenida entlangrollt, gefolgt von Rufen nach Freiheit und Unabhängigkeit.

Ein Jahr nach dem Unabhängigkeitsreferendum

Sieben Jahre geht das jetzt schon so. An jedem 11. September, dem Nationalfeiertag "La Diada", kommen Hunderttausende zusammen. "Jetzt ist der Moment" stand im vergangenen Jahr auf den Shirts. Es folgte das Unabhängigkeitsreferendum am 1. Oktober, an dem trotz des Verbots und polizeilicher Repression mehr als zwei Millionen von über fünf Millionen Wahlberechtigten teilnahmen.

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90 Prozent der Teilnehmer stimmten für die Unabhängigkeit. Madrid stellte Katalonien unter Zwangsverwaltung, sperrte sieben Exminister und die Vorsitzenden der Bürgerbewegung Katalanische Nationalversammlung und der Kulturorganisation Òmnium, die auch zur diesjährigen Kundgebung gerufen haben, ein. Sie warten alle auf den Prozess wegen Rebellion. Sechs weitere, unter ihnen der ehemalige Regierungschef Carles Puigdemont, flohen ins Ausland.

"Eine Frage der Zeit"

Und jetzt, ein Jahr später, wieder ein Aufmarsch, als wäre nichts geschehen. "Und ewig grüßt das Murmeltier" sollte man meinen? "Nein", antwortet Joan Bosco. Der 72-jährige pensionierte Marketingspezialist ist mit seiner Frau, dem Sohn, der Schwiegertochter und den beiden Enkelkindern aus Sant Vicenç gekommen. "Wir haben erreicht, dass der spanische Staat schwer besorgt ist", sagt er. "Zwangsverwaltung, Inhaftierungen, es hat alles nichts genutzt. Wir sind immer noch hier", fügt er hinzu. Unabhängigkeit? "Eine Frage der Zeit. Ich werde sie trotz meines fortgeschrittenen Alters noch erleben", urteilt Bosco.

Sonia Sierra von Ciutadans und Francesc de Dalmases von Junts per Catalunya
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Seine Schwiegertochter Rosa María Bove (37), Publizistin, ist weniger optimistisch. "Es geht nicht so richtig voran", wirft sie ein. Dennoch: Aufgeben? Nie. Einer der Inhaftierten, der ehemalige Vizeregierungschef Oriol Junqueras, war Bürgermeister in Sant Vicenç. "Seine Kinder gehen mit meinen in die Schule", sagt Bove. Sie will nicht eher ruhen, bis alle Gefangenen frei sind und die Exilierten zu Hause.

Verfahren sollen im Oktober beginnen

Bove prophezeit einen heißen Herbst. Denn Ende Oktober wird wohl das Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof in Madrid beginnen. Bis zu 55 Jahre Haft drohen Junqueras und den anderen. "Wir gewinnen Sympathien, langsam aber sicher", sagt sie. Etwas mehr als die Hälfte seien laut Umfragen für die Unabhängigkeit Kataloniens. "Das reicht nicht, aber wir arbeiten weiter. Vor zwei Jahren hätten wir noch mit uns verhandeln lassen, aber nach all dem, was passiert ist, gibt es nur noch eine Lösung: die Unabhängigkeit", beendet sie das Gespräch.

Etwas weiter entfernt steht Roger Serrano, ebenfalls mit der ganzen Familie. Er trägt eine Unabhängigkeitsfahne über den Schultern und eine Maske mit dem Gesicht Puigdemonts, der in Belgien lebt, auf dem Hinterkopf. "Wir haben zwei Sachen erreicht. Die Katalonienfrage wurde dank der Auslieferungsverfahren gegen Puigdemont in Deutschland und den anderen international bekannt. Und Spanien hat bewiesen, dass es noch faschistischer ist, als wir eh geglaubt haben."

Lange könne Madrid die Lage nicht mehr kontrollieren. "In zwei bis drei, spätestens in fünf Jahren sind wir unabhängig", ist sich der 44-Jährige, der sich der Produktion von Videos widmet, sicher. "Wir dürfen uns nur nicht provozieren lassen und müssen weiterhin friedlich für unsere Sache eintreten", mahnt er angesichts des bevorstehenden Gerichtsverfahren, bei dem "die politischen Gefangenen ganz sicher zu hohen Strafen verurteilt werden". (Reiner Wandler und Andreas Müller aus Barcelona, 11.9.2018)