Einen alten Kinofilm wieder sehen? Technisch kein Problem. Gerade zeigt das Filmmuseum Werke von Rainer Werner Fassbinder, und im Metro gibt es eine Romy-Schneider-Retrospektive. Auch das Wiederhören klassischer Musik ist eine Selbstverständlichkeit. Aber was, wenn man eine Operninszenierung, eine Kunstperformance oder ein Tanzstück etwa aus den 1980er-Jahren wiedererleben möchte? Das bleibt eine Herausforderung, denn solche Kunstwerke müssen – oft aufwendig – rekonstruiert werden.

Der Liebestrank wird nach 25 Jahren nach Bayreuther Muster gereicht: "Tristan und Isolde" in Linz.
Foto: Reinhard Winkler

Tanz ist technisch nicht reproduzierbar. Wer die Aufnahme eines Tanzstücks auf DVD oder Youtube sieht, erhält zwar einen ungefähren Eindruck davon, was sich auf der Bühne abgespielt hat. Aber erstens sieht man ein anderes Medium – einen 2D-Film. Daher ist, zweitens, die Raumtiefe weg und drittens die akustische "Architektur" beim Teufel. Viertens schließlich kann keine Kamera die Lichtkompositionen bei Tanzstücken erfassen. Wenn es auf der Bühne dämmert, was häufig der Fall ist, bleibt das entsprechende Videobild meist schwarz.

Rekonstruieren oder nicht

Im Vergleich damit tut sich das Drama leichter, eben weil es dabei vor allem um Texte geht, die im Theater verlebendigt werden. Aber seit die "postdramatische" Theaterperformance an Bedeutung gewinnt, stellt sich auch hier die Frage: rekonstruieren oder nicht, und wenn ja: was und wie?

Darüber entfachte sich in den 1990ern unter progressiven Künstlern und Theoretikern aus Tanz respektive Performancekunst eine neue Debatte. Zur Avantgarde eines neuen, zukunftsorientierten Geschichtsbewusstseins gehörte die Pariser Gruppe Le Quatuor Albrecht Knust, die ab 1993 Stücke wie Vaslav Nijinskys L'Après-midi d'un faune (1912) neu erarbeitete. Auf der Gegenseite standen jene, die mit der US-Performance-Studies-Größe Peggy Phelan die Rekonstruktion strikt ablehnten. Sie vertraten die Ansicht, dass gerade das Vergängliche die wichtigste politische Eigenschaft der Liveperformance sei. Im Zuge dessen geriet der Begriff "Rekonstruktion" in Misskredit: Er suggeriere eine Originaltreue, die kein Versuch je einlösen könne. Als Beispiel dafür diente das klassische Ballett. Dort gewinnt das Publikum oft den Eindruck, ein Stück jetzt so sehen zu können, wie es im 19. Jahrhundert gewirkt hat.

Die Debatte hat dem komplexen Thema Rekonstruktion bis in die Nullerjahre zu einer extrem ergiebigen Dynamik verholfen. Leider gibt es die "Knusties", wie Yvonne Rainer Le Quatuor Albrecht Knust nannte, nicht mehr. Und neue Begriffe wie Transmission, Revisiting oder Redoing, die das Wort Rekonstruktion ersetzen sollten, haben sich nicht durchgesetzt. Immerhin aber entfesselte die Auseinandersetzung in Deutschland ab 2012 ein millionenschweres Fördergroßprojekt mit dem Titel Tanzfonds Erbe. Doch da war die Begeisterung und Unmittelbarkeit der Nineties, in der sich die Crème der avancierten Choreografie für den Transfer historischer Choreografien in Zusammenhänge der Gegenwart begeisterte, schon vorbei. So arbeiten sich für den Fonds nun seit sieben Jahren vor allem mittelmäßige Tanzschaffende an Schlüsselwerken des 20. Jahrhunderts ab.

Salamon zeigt Gert

Nur lebende Stars wie Anne Teresa De Keersmaeker können ihre Frühwerke selbst neu auf die Bühne bringen. Zuletzt zeigte die Belgierin im Vorjahr dem Wiener Publikum ihr Quartett Rosas danst Rosas (1983). Beim Festival Impulstanz gehören Rekonstruktionen zu den Highlights. Diesen Sommer präsentierte Meg Stuart ein Solo von 2007, und die Berlinerin Eszter Salamon ließ ihr Publikum Arbeiten der 1978 verstorbenen deutschen Avantgardistin Valeska Gert neu erleben.

Vor sechs Jahren hatte Ismael Ivo bei Impulstanz Johann Kresniks Choreografie Francis Bacon aus dem Jahr 1993 als "Reenactment" wieder auf die Bühne gebracht. Jetzt im Oktober liefert Kresnik (78) abermals, nämlich Macbeth (1988), ins Linzer Musiktheater. Dort ist übrigens schon ab dem Wochenende eine weitere Rekonstruktion zu sehen – diesmal einer Oper: Wagners Tristan und Isolde in der Inszenierung von Heiner Müller aus dem Jahr 1993. Verantwortlich für diese Wiedererstellung ist der Linzer Schauspieldirektor Stephan Suschke, in den 1990ern Mitarbeiter von Müller. (Helmut Ploebst, 13.9.2018)