Die erste Begegnung mit Gerhard "Gundi" Gundermann gleicht dem Rendezvous mit einem Tölpel. Die deutsche Mauer ist seit zwei Jahren weg. Gundermann (Alexander Scheer), der singende Baggerfahrer aus der Lausitz, sucht Mitglieder für seine neue Band. Der spindeldürre Mann hat langes, dünnes Blondhaar. Seine Brille stammt aus den schlimmsten metallverarbeitenden Betrieben der DDR. Man fühlt sich mit Blick auf diesen herumstotternden Alltagspoeten an eine staatssozialistische Ausgabe des jungen Jerry Lewis erinnert.

Eignete sich in gerade einmal acht Vorbereitungswochen die Maske und die Eigenarten des DDR-Liedermachers Gerhard "Gundi" Gundermann an: Alexander Scheer, Castorf-Schauspieler, Musiker, Filmstar.

Foto: Hartwig/Polyfilm

Doch dann singt Gundi ("Ich fang' einfach mal an ...!") sein Lied Gras: Der Ton seiner Stimme, erst unsicher, entwickelt unerhörten Nachdruck. "Und immer wieder wächst das Gras, wild und hoch und grün ...", schmachtet der Arbeiterdichter, selbstvergessen die Gitarre zupfend. Besagtes Gras klammere "alle Wunden zu". Man darf es sich mit Blick auf den Braunkohletagbau in Hoyerswerda, im spröden Südosten Deutschlands, vielleicht als grün, aber bestimmt nicht als fett vorstellen.

Während seiner langen Stunden auf Schicht gleicht Gundermann einem Mondfahrer. In Andreas Dresens famosem Biopic Gundermann sitzt der Baggerführer in der Pilotenkanzel, eigentümlich unbestimmt zwischen Himmel und Erde. Die Grube selbst klafft 200 Meter tief. Der Sitz des Kranführers aber schwebt 24 Meter über der Talsohle. Die Aussicht ist sowohl bedrückend als auch schwindelerregend.

Kleider aus Kunstfasern

Die Schichtarbeit im Arbeiter- und Bauernstaat verbindet zwei Aspekte. Mit der Brotdose im Gitarrenkoffer erklimmt Gundi seinen Arbeitsplatz. Dort, notdürftig abgeschirmt vom entbehrungsreichen DDR-Alltag, spricht der Nebenerwerbssänger Gedanken aufs Diktafon. Dresen, einer der klügsten Autorenfilmer nicht nur im Osten, erzählt noch von einem anderen, sehr viel schleichenderen Prozess. Gundermann verklärt nicht die Wohlfühlzonen im Schmalspursozialismus. Die gab es reichlich in den Kulturheimen. In den kommunalen Mietskasernen ("Fickzellen mit Fernheizwärme"), im Milieu aus Sperrholzmöbeln, mit den Kleidern aus der Kunstfaserproduktion.

Dresen – und mit ihm sein verblüffender Hauptdarsteller – erzählt vom schnödesten Prozess, der einem zu Lebzeiten zustoßen kann: das Vergessen. 1976 wurde Gundermann vom Ministerium für Staatssicherheit als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) angeworben.

Die Sache verkompliziert sich, wenn man bedenkt, dass der aufmüpfige Baggerführer bereits 1978 "wegen unerwünschter eigener Meinung" aus der SED erst ausgeschlossen, dann bloß gerügt wurde. 1978 folgte der endgültige Ausschluss, übrigens auch von der Stasi, und zwar wegen "prinzipieller Eigenwilligkeit". Da war die Milch schon verschüttet. Die Konfrontation mit der eigenen Täterakte stürzt den eigenwilligen Parteirebellen in ein tiefes Loch. Gundermann tanzt um sein Leben. Das Seil ist zugleich auf zwei Zeitebenen gespannt. Der treuherzige Braunkohleschaufler buhlt im Rückblick um Conny (Anna Unterweger), die an einen Musikerkollegen vorerst vergeben ist.

Pandora Film Verleih

Die Stasi buhlt um ihn. Sein Kontaktoffizier (Alex Prahl) schenkt ihm irgendwann eine apokalyptisch hässliche Obstschüssel: kleine Aufmerksamkeit von der Firma. Als Gundi sich seinem Kollegen Volker (Milan Peschel) nachträglich als IM zu erkennen gibt, den er (lässlich) verpfiffen hat, entdeckt er in dessen Zimmer den nämlichen "Luxusartikel". Nur dass Volker die Schüssel als Aschenbecher gebraucht. Jetzt benötigt Gundermann, der überzeugte Abstinenzler, einen kräftigen Schnaps.

Die Schauspieler Scheer und Peschel gehen beide aus der Zentrale der Ostschauspielkunst hervor, Frank Castorfs Volksbühne. Ihr Duell ist ein Kammerspiel: Zwei, die einander belauern, sind vom nämlichen Schlag.

Man fühlt sich wiederum an Aussagen eines anderen prominenten DDR-Künstlers erinnert. Sie stammen von Heiner Müller. Der weltberühmte Dramatiker sagte einst, als er als "IM Zement" enttarnt worden war, er hätte den Kontakt mit den Vertretern der Macht nicht von sich aus gesucht. Er hätte aus ihm aber Selbstvertrauen geschöpft. Müller sei der Gedanke unplausibel erschienen, man könne mit der Macht Umgang pflegen und sich zugleich seine Unschuld bewahren.

Bis zum letzten Herzschlag

Der reale Gundermann offenbarte seine schuldhafte Verstrickung öffentlich, während eines Konzerts, 1995. Immer noch arbeitete er im Revier. Den Gedanken, seine Karriere als Liedermacher zu "professionalisieren", lehnte er aus Unabhängigkeitserwägungen ab. 1998 starb der Mann, der jede Nacht nur vier Stunden schlief, gänzlich unerwartet und 43-jährig an einem Herzschlag. Gundi musste zur Kenntnis nehmen, dass auch Menschen mit lauterem Herzen unlautere Dinge drehen können. Alexander Scheer spielt das mit bezwingender Verwandlungskraft: Er ist (und singt) "Gundermann'scher", als es der echte Gundermann jemals war.

So sitzt man auch vor einem so grandiosen Film wie Gundermann mit gemischten Gefühlen. Der begrüßte Kollaps des Staatssozialismus hat die vormaligen DDR-Bürger nicht vor moralischen Schieflagen bewahrt. Nach der filmischen Klamaukperiode, als man über die Nationale Volksarmee noch herrlich dumme Witze reißen konnte, ist man in eine Phase der Besinnung übergetreten.

Das Leben der anderen wird als unauflöslicher Widerspruch empfunden und wiedergegeben, mit sanfter Nachsicht für die nicht so Mutigen. Die Würde, als unteilbare Eigenschaft, steht auch den lässlichen Tätern zu, den Mitläufern und vor allem erprobten Idealisten wie dem unermüdlich Erdreich schaufelnden Sänger Gundermann.

Von sich sagte der "Facharbeiter für Tagebaugroßgeräte", er habe mit dem Sozialismus auf das richtige Pferd gesetzt. Nur habe es eben nicht gewonnen. Kurz darauf sieht man Gundermann grübelnd auf das Grün vor seinem Haus blicken. Alexander Scheer hat sich die Physiognomie Gundermanns, das Schniefen, den von tiefer Wehmut erfüllten Gesang, in läppischen acht Wochen angeeignet. (Ronald Pohl, 13.9.2018)