Lukas Rietzschels Debütroman wird als Buch der Stunde gefeiert. Wie seine Protagonisten ist er in Sachsen aufgewachsen. Der aktuelle Hass gegen Ausländer dort schockiert ihn.

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Lukas Rietzschel, "Mit der Faust in die Welt schlagen". € 20,60 / 320 Seiten. Ullstein, Berlin 2018

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Der Traum vom Einfamilienhaus wird für die Familie Zschornack mit viel Eigenleistung Anfang der 2000er wahr. Wie die Eltern – ein Elektriker und eine Krankenschwester – sich das leisten könnten, werden die Söhne Tobias und Philipp in der Schule gefragt. Dass das niemanden etwas anginge, sagt der Vater. Dabei spekuliert er selbst, woher die Nachbarn das Geld für ihre Häuser haben: billiger Bau? Erbschaft? Sobald sie dort wohnen, schauen die Brüder auf die Kinder herab, die kein Haus haben. Den Buben dämmert allmählich die Bedeutung der gar nicht so feinen gesellschaftlichen Unterschiede.

Chemnitz verstehen

Von diesen erzählt der 24-jährige Lukas Rietzschel in seinem als Buch der Stunde gefeierten Debütroman. Mit der Faust in die Welt schlagen spielt in einem Örtchen in der sächsischen Provinz in Ostdeutschland und liefert eine geballte Ladung Erklärungsversuche auch für die fremdenfeindlichen Ausschreitungen, mit denen die Stadt Chemnitz in den vergangenen Wochen Schlagzeilen macht.

Die Handlung erstreckt sich über 15 Jahre, beginnend mit dem Hausbau. Die Wiedervereinigung ein Jahrzehnt zuvor hat die Menschen in Neschwitz hart getroffen. Einst baute man hier Wagons und Schamotte. Es war üblich, dass Söhne den Vätern in die Fabriken folgten und ein Leben lang dort blieben. Seit dem Mauerfall ist die Industrie aber erlahmt. Nun herrscht Arbeitslosigkeit, Lebensentwürfe sind ausgehebelt.

Das nährt Hass gegen jene, denen es besser geht – vorerst sind das Politiker und Westdeutsche. Auf diesem Nährboden erzählt Rietzschel mit direkter, schmuckloser Sprache die Radikalisierung einer Gruppe von Jugendlichen, darunter Tobias und Philipp.

Die Brüder wachsen in bescheidenen Verhältnissen vergleichsweise behütet auf. Es gibt Streuselkuchen, und die Großmutter hält sie an, in der Schule tüchtig zu sein. Doch alles rundum zeugt von Niedergang. Frauen ziehen weg, Banken und Ärzte haben schon lange dichtgemacht. Auch die Politik ist am Rückzug und legt Gemeinden zusammen. "Die Wege wurden länger, die Entfernungen größer", folgert der Autor.

Entfernung wächst

Im gleichen Maß wächst die Entfernung zwischen den sozialen Schichten. "Die versuchen unserer Familie schon immer eins reinzuwürgen", schimpfen die Eltern über die Entscheidungsträger. Welchen Grund hätte der Nachwuchs angesichts der tristen Lage, ihnen nicht zu glauben?

Zum Bezugspunkt werden für die Kinder ältere Burschen mit schwarzen Autos und rasierten Schädeln. Sie hängen morgens vor der Schule herum und schmieren Hakenkreuze auf Steine.

Mit der Faust in die Welt schlagen ist ein Coming-of-Age-Roman vor dem Hintergrund fehlender Perspektiven. Rietzschel erzählt, wie seine eigene Biografie auch anders hätte laufen können. Er ist im Nachbarort Räckelwitz als Arbeiterkind aufgewachsen, wie Tobias begann er nach der Mittelschule eine Lehre in einer Fahnenfabrik. Dann entdeckte er aber die Literatur, zog fürs Germanistikstudium nach Kassel. Seit zwei Jahren lebt er wieder in Sachsen, in Görtlitz an der polnischen Grenze. Er wollte herausfinden, wie es zu Radikalisierung kommt.

Best-of der Erklärungen

Man liest Sätze wie "Für Griechenland wäre Geld da gewesen" und "Kein Politiker weit und breit, der sich den Massen stellte" – und sie kommen einem bekannt vor. Der Roman ist ein Best-of der Erklärungsversuche, die immer dann fallen, wenn über das Erstarken der Rechten diskutiert wird.

Erst ab etwa der Hälfte der 300 Seiten treten Asylsuchende als Feindbilder auf den Plan. Nicht mehr nur die eigene Ohnmacht treibt nun die Aggression der Burschen an, eine "Sorge" um ihre Heimat kommt dazu. Thilo Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab von 2010 wird zum Einschnitt: Endlich darf man öffentlich aussprechen, was man sich denkt! Die Truppe schüttet einer türkischen Familie ranzige Schweineteile vors Haus und verwickelt unschuldige Flüchtlinge in eine Schlägerei.

Rietzschel kommentiert und bewertet das Geschehen nie, er schildert es bis in Details bedrückend. Ein richtiges Ende gibt es nicht. Die Problematik ist ja nicht ausgestanden. Eine Lösung fehlt. (Michael Wurmitzer, 14.9.2018)