Der ungarische Nationalismus steht im Zentrum von Orbáns illiberaler Demokratie. In Straßburg und Brüssel ist man derart alarmiert, dass man Ungarn die Rute ins Fenster stellt.

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Das historische Votum im Europaparlament für die Einleitung eines Rechtsstaatsverfahrens gegen Ungarn warf in Budapest viele Fragen auf.

Sie knüpften sich an den Umstand, dass nunmehr offenbar wurde, dass durch die Europäische Volkspartei (EVP), der sowohl die ÖVP, die deutsche CDU und CSU als auch die ungarische Regierungspartei Fidesz angehören, ein tiefer Riss geht.

Die erforderliche Zweidrittelmehrheit für die Auslösung des für die Budapester Regierung höchst peinlichen Verfahrens wäre nicht zustande gekommen, hätten die EVP-Abgeordneten, darunter auch die Vertreter der ÖVP, nicht in großer Mehrheit dafür gestimmt. In der EVP-Fraktion blieb die Fidesz-Gruppe nahezu isoliert. Nur Abgeordnete aus Osteuropa, Italien und Bayern votierten gegen die Einleitung des Verfahrens.

Es sah aus wie eine gewaltige Ohrfeige für Ungarns autoritären Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Dieser hatte es sich am Tag vor der Abstimmung nicht nehmen lassen, in der Debatte persönlich das Wort zu ergreifen.

Schelte für Orbán

Den Auftritt nutzte er aber nicht, um sich die Parteifreunde in der EVP durch kleinere Zugeständnisse – etwa im repressiven Umgang mit Zivilorganisationen und Universitäten – gewogen zu machen. Vielmehr beschimpfte er die Kritiker seiner "illiberalen" Politik pauschal als Übeltäter, die nichts anderes im Sinn hätten, als "Ungarn und die ungarischen Menschen" anzugreifen.

Orbán ist ein viel zu erfahrener Politiker, als dass er nicht gewusst hätte, was er damit bewirkte. Dafür hatte er die Abgeordneten der diversen Fraktionen und Gruppen der Ultra-Rechten, von der FPÖ über Marine Le Pens Nationale Sammlungsbewegung und Matteo Salvinis Liga bis hin zur deutschen AfD, auf seiner Seite. Sie alle stimmten gegen das Rechtsstaatsverfahren. Längst schon ist der Rechtspopulist Orbán ihr Liebling. "Er hat bereits begonnen, die Fundamente für eine neue, migrationsfeindliche, in Kategorien eines 'Europa der Nationen' denkende, auf nationale Souveränität pochende Parteienfamilie zu legen", schrieb Attila Kálmán im Portal 24.hu. "Wenn die ultra-rechten Parteien (nach den Europawahlen im Mai 2019) stark genug sind, könnte sich Orbán sogar an die Spitze dieser neuen Formation stellen."

Dies würde den offenen Bruch mit der EVP voraussetzen. Einen solchen schloss Orbán vorerst aus. Vor Journalisten in Straßburg erklärte er, dass er in der EVP bleiben wolle, um sie nach seinem Geschmack zu "reformieren". Angesichts der Mehrheitsverhältnisse, wie sie im Straßburger Votum offenbar wurden, scheint das allerdings illusionär. "Plan B" dürfte aber bereits in der Schublade liegen. Am Donnerstag schrieb Orbáns Leibkommentator Zsolt Bayer im Leitartikel des Regierungssprachrohrs Magyar Idök mit Blick auf die nächsten Europawahlen: "In gut einem halben Jahr werden wir all diese ehrlosen Halunken aus den EU-Institutionen hinausschmeißen (...). Auch werden wir im Bündnis mit unseren Freunden (rechts von der EVP) im nächsten Europaparlament die größte Fraktion bilden können. Die Fraktion der Normalen."

Politisches Risiko

Ließe sich Orbán tatsächlich darauf ein, wäre dies ein riskantes Spiel. "Es ist kaum vorstellbar", schrieb der Budapester Think-tank Political Capital in einer Analyse, "dass eine Gruppe aus Rechtsextremisten, EU-Feinden und -Skeptikern langfristig mit der EVP konkurrieren kann." Kettet Orbán sich an ein solches Vorhaben, könnte sein politischer Einfluss auf europäischer Ebene schnell dahinschwinden. (Gregor Mayer aus Budapest, 13.9.2018)