Ein Fingerzeig der Geschichte: Macron will besser dastehen und Frankreichs Arme entlasten.

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Frankreich sieht sich gern als Hort der Gleichheit. Mit diesem Selbstverständnis kontrastiert die jüngste Verlautbarung des Statistikamtes Insee, das Land zähle bei 67 Millionen Einwohnern 8,8 Millionen Arme – Menschen also, die mit weniger als 1.026 Euro im Monat auskommen müssen. Besonders häufig betroffen sind Alleinstehende und Alleinerziehende. Eine junge Mutter namens Suzanne erzählte im Lokalblatt "Le Parisien", Kino oder Kalbfleisch kämen für sie nicht mehr in Betracht. Und auch so, sagte sie, "zähle ich stets die Centimes, wenn mir überhaupt welche bleiben".

Gegen diesen Missstand will Präsident Emmanuel Macron nun vorgehen. Das französische Modell sei Teil des Nationalstolzes, doch es erlaube offenbar nicht, die Armut zu beenden, erklärte er am Donnerstag bei der Vorlage eines seit Monaten angekündigten "Plans zur Bekämpfung der Armut". Acht Milliarden Euro sollen über vier Jahre investiert werden. Das übliche Gießkannenprinzip werde aber nicht zur Anwendung kommen, führte Macron aus: "Wir könnten einfach das RSA (eine Art Existenzminimum für 2,5 Millionen Franzosen, Anm.) verdoppeln, doch das wollen wir nicht." Wichtiger sei es, die Strukturen zu ändern, die dazu führten, dass in den allermeisten Fällen arm bleibe, wer arm geboren sei.

Deshalb greift der Plan ab dem jüngsten Alter, etwa schafft er 30.000 Krippenplätze in sozial benachteiligten Vierteln. Frankreich ist zwar bekannt dafür, Tagesstätten schon für wenige Monate alte Kinder anzubieten, damit die Mütter einen Job ausüben können, in den Armenvierteln besuchten aber nur fünf Prozent der Kleinkinder eine Krippe, während es anderswo über 20 Prozent seien, rechnete Macron vor.

Günstiges Essen für Schulkinder

An gewissen Volksschulen schafft die Regierung zudem Gelegenheit, unentgeltlich das Frühstück einzunehmen. Für Kinder aus armen Familien sollen die Mahlzeiten in Schulkantinen nur einen Euro kosten.

Andere schulische Maßnahmen betreffen die Mittelschule und die Zeit danach. 60.000 Schulabgänger verschwinden beim Übergang ins Arbeitsleben "von allen Radarschirmen", erklärte der Staatschef. Insgesamt zwei Millionen Junge stünden in Frankreich ohne Ausbildung dar; diese solle deshalb "obligatorisch" werden.

Macron räumte indirekt selbst ein, dass sein Plan gegen die Armut auch eine politische Kurskorrektur darstellt. Wegen des Abbaus der Vermögenssteuer vor einem Jahr als "Präsident der Reichen" bezeichnet, inszenierte er sich nun in einem mehrstündigen Auftritt als Präsident der Armen.

Auch das Image des abgehobenen Klassenbesten will er loswerden. In Anspielung auf seine frühere, stark kritisierte Aussage zugunsten der "Ersten der Seilschaft" meinte er nun: "Die Anführer der Seilschaft dürfen die Schlusslichter nicht vergessen." In letzter Zeit hatten sogar Regierungsmitglieder Macrons "vertikales", das heißt hierarchisches Staats- und Gesellschaftsverständnis beanstandet. Sein früherer Wirtschaftsberater Jean Pisani-Ferry empfiehlt ihm in Anlehnung an seine Göttervergleiche eine "weniger jupiterhafte Methode".

Schwindende Beliebtheit

Macrons Popularität ist in den neuesten Umfragen regelrecht eingebrochen. Er erhält damit auch die Quittung für eine im Ausland getätigte Behauptung über die "widerspenstigen Gallier". Dabei verdankt er seine zwei bisher schwierigsten Reformen – des Arbeitsrechts und der Staatsbahn SNCF – auch der Unterstützung oder zumindest Billigung durch die öffentliche Meinung. Vielleicht sieht nun auch Macron langsam ein: Die Franzosen sind nicht prinzipiell gegen Reformen – aber sie haben zunehmend Mühe mit dem Stil des Präsidenten.

Die politischen Folgen der sozialen Wende sind noch nicht abzusehen. Sie hängen zweifellos davon ab, ob Macron seinen Anti-Armuts-Plan als Korrektiv zur Vermögenssteuerreform sieht – oder als langfristige Abkehr von seinen liberalen Reformen. Auf jeden Fall steht das Planverfahren – obwohl das Macron bestreitet – in der besten französischen Sozialhilfetradition. Und diese Tradition hat der Jungpräsident bisher selbst als Hemmschuh für die Dynamisierung der Wirtschaft und Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und der Armut bezeichnet. (Stefan Brändle aus Paris, 14.9.2018)