"Da kann ich / nur im Geheimen daheim sein / in dieser Sprache": Peter Henisch.

Foto: Heribert Corn corn@corn.at

Ein "OEuvre" ist laut Duden das "Gesamtwerk eines Künstlers", zu finden in Redewendungen wie: "ein umfangreiches OEuvre hinterlassen".

Peter Henischs 75. Geburtstag beweist die Unzulänglichkeit dieser Definition. Zwar ergeben die ungefähr 35 Titel, die Henisch seit Erscheinen seines ersten Bandes bei S. Fischer im Jahr 1971 vorgelegt hat, einen hohen Bücherstapel – rein rechnerisch ein Werk alle 16 Monate. Dazu kommen Schallplatten, CDs und anderswo erschienene Originalbeiträge. Aber aus dem Volumen allein geht noch kein OEuvre hervor, und es gibt Schriftsteller, die niemals auch nur in die Nähe eines solchen kommen.

Was spezifisch ein literarisches OEuvre ausmacht, mag variieren. Bei Peter Henisch ist es zuallererst die Umsicht, mit der er seine Werke behandelt, die kreative Obacht, die er ihnen angedeihen lässt. Viele Schriftsteller sind mit einem Buch fertig, sobald es erschienen ist. Eine solche literarische Weglegung ist nicht Henischs Sache. Immer wieder nimmt er sich seine Bücher vor, liest sie, hinterfragt sie und schreibt sie neu. Dass seine Werke sich von ihrem Schöpfer trennen und ihr eigenes Leben führen, ist für ihn eine Möglichkeit, einen neuen Dialog mit ihnen zu beginnen.

Der Roman, der Henisch bekannt gemacht hat, "Die kleine Figur meines Vaters", erschien 1975. Er eröffnete das Genre der "Väterliteratur", in der Söhne die Verstrickung ihrer Familie in den Nationalsozialismus untersuchten. Bei Henisch sen. war das verzwickt, denn der war nicht nur ein erfolgreicher Fotograf und Kriegspropagandist, sondern auch jüdischer Herkunft – was er erfolgreich verheimlichen konnte.

Das Buch wurde 1987 überarbeitet und erschien 2003 als erweiterte Neuausgabe mit inzwischen aufgefundenen Fotos des Vaters. Dazwischen liegen die Wehrmachtsausstellung, die Waldheim-Affäre und ein neues österreichisches Gefühl der Verantwortung für den Holocaust. Kein Wunder, dass die letzte Version "politischer" ist – aber auch mehr Verständnis für den Vater zeigt.

Epik der Nachkriegsgeschichte

Henischs Werke leben und präsentieren gleichzeitig die widersprüchliche Dynamik der österreichischen Nachkriegsgeschichte, deren unvergleichlicher und auch unbestrittener Epiker er inzwischen geworden ist. Das ist bemerkenswert, denn Epen bestätigen gerne die dominanten Machtverhältnisse, während Henischs Werke vom Widerstand erzählen, gegen Ausgrenzung angehen, den Außenseiter aber gleichzeitig in seiner Besonderheit zur Geltung bringen.

Peter Henisch löst den inneren Widerspruch des historischen Romans zwischen dem "Faktischen" und dem "Fiktiven" anhand der vielfältigen Geschichte(n) seiner Familienmitglieder auf – neben der "Kleinen Figur" stehen der Roman "Eine sehr kleine Frau" (2007), der die jüdische Großmutter in den Fokus nimmt, aber auch ein quasiautobiografischer Roman wie "Suchbild mit Katze" (2016), in dem sich der Schriftsteller seine (Klein-)Kindheit vornimmt.

Seine großen epischen Texte – "Pepi Prohaska Prophet" (1985, erscheint nun neu zusammen mit dem Post-1968-Roman "Der Mai ist vorbei" zum Jubiläum des Autors in einem Band) und "Schwarzer Peter" (2000) -, auch sie mehrmals überarbeitet, (er)finden das Nachkriegsösterreich und werden trotz ihrer Subversivität Teil der (literarischen) Identität des Landes.

Herausfordernde Narratologie

Henischs jüngster Roman "Siebeneinhalb Leben" leistet einen besonderen Beitrag zu dieser Idee eines integrierten OEuvres. Der Protagonist seines vor 30 Jahren erschienenen Wien-Romans "Steins Paranoia", Max Stein, setzt sich im Spätsommer 2016 im Türkenschanzpark neben den Erzähler und spricht ihn an. Der Text ist selbst für fortgeschrittene Narratologen eine Herausforderung, nicht nur aufgrund des dem früheren Text entsprungenen Charakters, der nun im neuen Text "real" wieder auftaucht.

Der Erzähler in "Siebeneinhalb Leben" heißt nämlich nicht, wie man aus der bibliografisch erschließbaren Autorschaft von "Steins Paranoia" vermuten müsste, Peter Henisch, sondern Paul Spielmann. Der wiederum ist Henisch-Lesern als Erzählerfigur der "Sehr kleinen Frau" bekannt. Darüber hinaus schreibt dieser Spielmann an einem autobiografischen Text, dessen Protagonist – man glaubt es nicht – Peter heißt.

Eindeutiger ist die Kontroverse zwischen dem Erzähler Spielmann und seiner wiedergängerischen fiktionalen Kreatur. Der Max Stein des neuen Romans ist unzufrieden mit seiner Darstellung vor 30 Jahren. Dabei geht es auch um kleinliche Details, deren Berichtigung er von Spielmann fordert. Denn Stein aus "Steins Paranoia", in dem der österreichische Jude sich in der Waldheim-Zeit so bedroht fühlt, dass er auswandern will und schließlich in der Psychiatrie landet, glaubt sich 2016 im Recht.

Es habe sich um keine Paranoia gehandelt, sondern um eine adäquate Haltung in Bezug auf Tendenzen, die man damals schon habe sehen können, die jetzt aber schon fast alltäglich geworden seien: "Leben Sie auf einem anderen Stern? ... Sehen Sie nicht, hören Sie nicht, was rund um uns vorgeht (...)?"

Der Roman insgesamt tendiert eher gegen den Erzähler und zu Stein. Die verwirrende erzählerische Struktur des Buches ist insofern funktional, als Spielmann nach einiger Zeit einräumen muss, dass es so etwas wie eine "Konstellation zwischen Sender und Empfänger" gibt, auch wenn sie nicht erklärbar ist, da Spielmann Max Stein 1988 tatsächlich nicht kennen konnte.

Eine einfache, psychologische Erklärung wäre, Stein als Alter Ego des Erzählers zu lesen, sein schlechtes Gewissen, nicht genug getan zu haben. Das würde jedoch die paradoxe Situation nicht auflösen. Man wird also von einer Mitwisserschaft Spielmanns ausgehen können, der die Behauptung Steins, dass Spielmann seine Geschichte gekannt, aber nicht adäquat dargestellt habe, zuletzt vorsichtig anzuerkennen scheint. Dass der Kater Spielmanns gecatnappt wird, um Spielmann zur Revision des Textes zu zwingen, scheint nur noch notwendig zu sein, um den Autor zum Schreiben zu zwingen – was sein Schöpfer Henisch ja mit dem Buch getan hat.

Überfüllte Leere

Das OEuvre eines Autors kann auch durch eine ausgeprägte Gattungsvielfalt geprägt sein. Henisch, vornehmlich als Romancier bekannt, schrieb auch Theaterstücke, Novellen und andere Kurzprosa. Mit der bei Sonderzahl unter dem Titel "Das ist mein Fenster" nun erscheinenden Ausgabe "fast aller Gedichte und Songs" lernen wir Peter Henisch neu kennen. Der vierhundertseitige Band vereinigt viele Gedichte seiner schriftstellerischen Anfänge, aber auch ganz neue Lyrik sowie die Songs seiner früheren Schallplatten und späteren CDs.

Die lyrischen Bilder überraschen, amüsieren oder schockieren. Etwa "diese Welt, die ich kommen sehe, / kommen höre: / Eine große / und überfüllte/ Leere / Eine globale / Flipperhalle", die zu einer grundlegenden Entfremdung des Ich von sich selbst führt.

Dabei sieht sich das lyrische Ich häufig als Teil einer hoffnungslos-absurden Situation, so der Ex-68er, der zur fernöstlichen Religion findet – "leckts mich alle am arsch / ich geh ins nirwana" – und deshalb paradoxerweise verkünden kann: "Wir alle / sind Indianer wir / wissen es nur / noch nicht."

Das gilt selbst für die wichtigste "konkrete Utopie" in Henischs Gesamtwerk, der er mehrere Bücher gewidmet hat: Italien. Zwar findet er "Zurückkehrend aus mehr Wärme / (...) dieses Land hier / meistens zu kalt (...) / Ich weiß nicht / Kaum / über der Grenze / wirken die Leute alt / und haben verlernt / miteinander zu reden / in dieser Sprache / die auch die meine ist / jeder sieht jeden / nicht an / Da kann ich / nur im Geheimen daheim sein / in dieser Sprache."

Gleichzeitig aber wird "In die Bar wandern / einen Cappuccino trinken / mit Pietro plaudern / die Unità zu lesen versuchen in der / der Wetterbericht immer gut ist" auch deutlich als "Scheißliberale Idylle!" durchschaut.

Henischs wienerische Version des Chansons "Polvere di Gesso" Gianmaria Testas, das eindrucksvollste Stück auf der neuen CD ("blues plus"), in dem das Ich Kreidestaub vor die Tür streut, um Besucher während seiner Abwesenheit zu entdecken, auch wenn ohnehin niemand kommt, ist Ausdruck der bitteren Idylle, die aus Henischs OEuvre spricht. Gottes "Heilsgeschichte, / angeblich abgeschlossen, / in Wahrheit abgerissen", wird von diesem Autor immer wieder neu zusammengeknüpft und geschrieben. Tanti auguri, Pietro! (Walter Grünzweig, 17.9.2018)