Die Wiener Lehrerin Susanne Wiesinger hat sich ihren Schulfrust von der Seele geschrieben. Ihr Buch "Kulturkampf im Klassenzimmer" sorgt für Aufregung.

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Susanne Wiesinger wusste bereits vor dem Erscheinen ihres Buches: Es birgt die Gefahr, politisch missbraucht zu werden. Der Titel, den die NMS-Lehrerin und SPÖ-Lehrervertreterin für ihren Vor-Ort-Bericht aus einer Schule in Wien-Favoriten gewählt hat, lautet trotzdem wenig zimperlich Kulturkampf im Klassenzimmer. Wiesinger betont, ihr gehe es um die Kinder. Sie wolle nicht mehr schweigen und zusehen, wie Probleme im Spannungsfeld Migration und Schule aus falsch verstandener Toleranz niedergehalten werden.

"Auf dem Papier gilt natürlich der offizielle Lehrplan. Nur umgesetzt wird er in vielen Brennpunktschulen kaum noch. Wir schummeln uns durch."

Sechs Anmerkungen dazu, warum der Fokus auf Kinder mit Migrationshintergrund zu kurz greift, es an der Struktur krankt und man die Probleme nicht dem Islam in die Schuhe schieben kann.

1.Frage der Herkunft

Thomas Bulant kennt den Zehnten wie seine Westentasche. Als Favoritner weiß der rote Lehrergewerkschafter, im Bezirk gibt es durchaus soziale Aufsteiger. Aber eben auch soziale Verlierer. Und für diese sei Religion oft "nur die Antwort auf soziale Probleme". Was in den letzten Jahren hinzugekommen sei: Immer mehr Gleichaltrige aus bildungsnahen Familien, und damit motivierende Leistungsträger, gehen an Privatschulen verloren.

Auch für Roland Verwiebe, Soziologe an der Uni Wien, steht außer Streit, dass viele der genannten Probleme eine soziale Frage sind. "Ich sehe nicht, dass der Islam oder irgendeine andere Religion die schlechten und guten Leistungen von Schülern erklären kann." Ein großes Problem ist, dass zu früh der weitere Bildungsweg für Schüler entschieden wird. All die vollzogenen Reformen hätten daran nichts geändert. Was es brauche? "Ressourcen für betroffene Schulen erhöhen, Sozialarbeiter einstellen, die Zahl der Lehrer steigern, Kultur, Sport und Bildung jenseits der Schule anbieten."

Ähnlich argumentiert Florian Müller, Professor am Institut für Unterrichts- und Schulentwicklung an der Uni Klagenfurt. Die Aussage, dass "Migrantenkinder den Schnitt verderben, wenn es um die mittelmäßige Leistung in den internationalen Vergleichsstudien geht, ist faktisch falsch". Hauptverantwortlich für die mäßigen Studienergebnisse seien vor allem Kinder aus bildungsfernen Schichten: "Somit ist das Problem zum Großteil ein Soziales und weniger eines des Migrationsstatus." Trauriges Detail: Kinder aus bildungsfernen Familien würden bei gleich guter Leistung mit höherer Wahrscheinlichkeit keine Gymnasialempfehlung erhalten, Kinder aus einem bürgerlichen Umfeld eher.

Zumindest für ihre Schule hat Marion Serdaroglu-Ramsmeier, Direktorin an der WMS Kauergasse im 15. Bezirk, eine Lösung gefunden. Sie kooperiert eng mit Kindergarten, Volksschule und dem Gymnasium Henriettenplatz. 256 Kinder gibt es hier, geschätzte 23 Sprachen werden gesprochen. Natürlich gebe es immer wieder Probleme, sie können das aber "nicht an den verschiedenen Kulturen festschreiben". Die intensive Zusammenarbeit macht sich bezahlt: "Was sich zeigt, ist: Die Kinder können im Gymnasium gut bestehen."

"In fast allen öffentlichen Wiener Mittelschulen und immer mehr Volksschulen findet keine Durchmischung der Schüler mehr statt."

2.Außen vor von Anfang an

Auch der Wohnort bestimmt über den Bildungsweg. Zwar in Wien weit weniger als in anderen europäischen Hauptstädten, sagt Bildungspsychologin Christiane Spiel mit Verweis auf den Nationalen Bildungsbericht, allerdings: Häufig würden in Österreich Kinder mit Migrationshintergrund innerhalb der Schule zusammengesteckt und nicht gleichmäßig über die Parallelklassen verteilt. Dabei sei bekannt, dass guter Lernerfolg und Schulklima entscheidend von einer guten Balance abhängen.

Sozial- oder Chancenindex heißt für Experten der Schlüssel zum Erfolg. Das Konzept: Schulen, die in Sachen Bildungsgrad, Einkommen und Migrationshintergrund der Eltern schwierigere Voraussetzungen haben, sollen zusätzliche finanzielle Mittel erhalten. In der Praxis ist das Modell nur im Pilotversuch angekommen. Soziologe Verwiebe weiß: Derzeit könnten Eltern aus sozial schwierigen Verhältnissen die langfristig positiven Konsequenzen einer weiterführenden Schule oft nicht gut abschätzen oder aber auf ein weiteres Haushaltseinkommen, etwa das Lehrlingsentgelt, nicht verzichten. Er verweist auch auf den geringen Anteil an Arbeiterkindern oder Kindern mit Migrationshintergrund an den Universitäten.

3.Souveräne Lehrkräfte

Bildungsexperte Müller interpretiert Wiesingers Buch als "Hilferuf". Denn: "Viele Lehrer wissen nicht mehr, wie man mit den veränderten Lernvoraussetzungen insbesondere in der Migrationsgesellschaft umgeht." Aber das dürfe man ihnen nicht vorwerfen. Insgesamt nehme die Heterogenität in Österreich zu und das Anforderungsprofil für Lehrkräfte habe sich geändert: Stichwort Erziehungsauftrag, Ganztagsschule, interkulturelle Kompetenz, Lehrer als Sozialarbeiter. Kurz gesagt: "Schulen werden zurzeit vielerorts alleingelassen und sind überfordert."

Für Lehrergewerkschafter Bulant ist die Zusammensetzung des Lehrerkollegiums essenziell. Weil er selbst Weiterbildungen zum Thema Konfliktmanagement anbietet, weiß er: "Es gibt immer wieder Erwachsene, die vor Halbwüchsigen kapitulieren." Das könne man so nicht stehen lassen. Für strafrechtlich Relevantes sei die Exekutive zuständig – in Wien sogar mit eigenem Kontaktbeamten pro Schule. Für alles andere, sei es Destruktivität oder Rüpelhaftigkeit, brauche es konsequentes Verhalten des gesamten Lehrerteams. Wenn das fehlt, seien manche Probleme "hausgemacht". Auch Bildungspsychologin Christiane Spiel betont: Der Diskurs über den Umgang mit Diversität müsse von den Schulen aktiv geführt werden. Es brauche klare Regeln, an die sich alle halten und die beim Auftauchen von Probleme wichtige Stütze sind.

"Die Mehrheit der muslimischen Kinder spielt stundenlang Playstation. Andere Dinge, die die Persönlichkeit und Individualität der Kinder positiv prägen würden, finden nicht statt."

4.Eltern mehr einbinden

Schuldirektorin Marion Serdaroglu-Ramsmeier setzt ganz auf die Zusammenarbeit mit dem Elternverein. Es gibt auch dreisprachige Elternabende in den vierten Klassen. Der vielsagende Titel: "Wohin mit 14". Dazu gebe es die sogenannten KEL-Gespräche, bei denen über die Lernergebnisse gesprochen werde. Manchmal würden auch Sozialarbeiter oder Begleitlehrer benötigt. In ihrer Schule ist zwei Tage die Woche ein Schulsozialarbeiter anwesend.

Auch Gewerkschafter Bulant hält Elternarbeit für sehr wichtig, sie werde aber leider zu wenig gefördert. Projekte wie "Mama lernt Deutsch" oder "Elternraum" würden daher nur lokal greifen. Bildungsexperte Müller ist skeptischer. Was gut klingt, führe in der Praxis zu einem "riesigen Umsetzungsproblem". Was tun, wenn Eltern nicht kooperieren? Gesetzlicher Zwang oder Sanktionen würden aus motivationspsychologischer Sicht für die Förderung des Lernens kaum etwas bewirken. Aktives Betonen der Erwartungen und Regeln am Schulstandort, am besten bereits bei der Anmeldung, schaffe jedoch Klarheit, auch für Eltern, sagt Psychologin Spiel.

5.Endlich Ethik

Religionskonflikten mit Wissen über und Verständnis für die Religion des jeweils anderen begegnen? Seit fast 20 Jahren wird das im Rahmen von Schulversuchen an knapp 3000 Standorten versucht. Allerdings: Die Regel ist eine verpflichtende Weiterbildung in Ethik bis heute nicht. Expertin Spiel bedauert das: "Er wäre sicherlich sinnvoll und sollte in Anbetracht der Migrationsströme und der Diskussionen dazu auch einen Fokus auf vergleichende Religionswissenschaften beinhalten."

6.Zusammen und ganztags lernen

Für das Projekt Gesamtschule sieht Bulant sowohl vonseiten der Politik als auch der Gesellschaft keine Bereitschaft. Und die Ganztagsschule? Auch die befinde sich in völliger Losgelöstheit von bildungswissenschaftlichen Erkenntnissen: "90 Prozent empfinde ich als Aufbewahrungsstätte." Nämlich die, wo statt des Wechsels von Unterrichts- und Freizeitphasen am Vormittag beschult und am Nachmittag betreut wird. Soziologe Verwiebe nennt Finnland und sein Gesamtschulmodell als Beispiel: "Dort erwerben zwischen 85 bis 90 Prozent einer Schülerkohorte die Hochschulzugangsberechtigung." Bildungspsychologin Spiel will lieber von Best-Practice-Schulen lernen, die mit ähnlichem Einzugsgebiet und ähnlicher Schülerklientel besonders gute Ergebnisse erzielen, was Schulleistungen und Schulklima betrifft. (Analyse: Peter Mayr, Karin Riss, 15.9.2018)