Schule kann schon belastend sein, manchmal wird sie zum Albtraum – und das vielleicht sogar ohne offensichtlichen Grund: Elena, 14 Jahre jung (Name von der Redaktion geändert), hat Depressionen und eine Angststörung. Die Schule und jede Form von Leistungsdruck verursachen bei ihr Panik. Sie ist in psychotherapeutischer Behandlung, einen Psychiater gibt es auch, dem die Familie vertraut. Da war aber noch der Rat, einen stationären Aufenthalt in Erwägung zu ziehen, um den übrigens hochintelligenten Teenager engmaschiger zu betreuen.

Allein, der Platz war in Wien nicht zu finden. Aufgenommen werden vor allem Kinder- und Jugendliche, bei denen akute Selbst- oder Fremdgefährdung besteht. Elena, die ein Jahr in der Schule verloren hat, zeigt keine Ansätze davon. Die Mutter hörte Argumente wie: "Bei uns würde es ihr noch schlechter gehen." Letztlich bekam das Mädchen einen von nur acht Plätzen in der Tagesklinik des Wiener AKH. Die Regeln waren klar und streng, Pünktlichkeit wurde gefordert. Die Familie war erleichtert, man wusste sie gut aufgehoben.

Impressionen aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie AKH

Als das AKH von dem Mädchen forderte, wieder den Weg in die Schule zu wagen, selbstverständlich nicht ohne psychologische Betreuung, wurde es Elena aber wieder zu viel. Sie konnte den Regeln nicht folgen und verlor den Platz im Programm der Tagesklinik, auf den natürlich schon andere warteten. Der Mutter konnte man nicht sagen, was sie stattdessen versuchen sollte. Eine Situation, die zu Enttäuschung, Frustration und Ärger führt und vom AKH selbst so kommentiert wird: "Kommt nur in Ausnahmefällen vor, wenn mehrmalige Versuche, die Patientinnen und Patienten wieder in die Therapie zu integrieren, erfolglos waren." Heute sagt die Mutter des Mädchens: "Es sind alle nett zu uns, aber sie sind überfordert." Warum? "Zu wenig Betreuungsplätze und Betten für zu viele Fälle."

Kritische Situation

Ein in Österreich bestehender Mangel, der schon lange von mehreren Stellen kritisiert wird – vor allem, weil im Notfall Jugendliche in die Erwachsenenpsychiatrie kommen, man dort aber nicht einmal ansatzweise auf die Bedürfnisse eingestellt ist und die Zusammenlegung auch nicht unproblematisch sein kann. Erst kürzlich kam es auf der Baumgartner Höhe zu einem Übergriff auf ein 13-jähriges Mädchen – die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft sind noch nicht abgeschlossen. 133 Jugendliche, also Zwölf- bis 18-jährige, sind kurzfristig 2017 in der Erwachsenenpsychiatrie aufgenommen worden. Eine offenbar eher hohe Zahl, wie es heißt.

Derzeit gibt es laut dem Wiener Krankenanstaltenverbund (KAV) in Wien nur 64 Betten für Kinder- und Jugendliche für stationären Aufenthalt, das sind die vom Krankenhaus Hietzing und vom AKH. Bis Ende 2019 wird auf insgesamt 113 Betten aufgestockt, 43 soll es dann am Rosenhügel geben, 40 im AKH und 30 im Krankenhaus Nord. Die Volksanwaltschaft kritisiert, dass es überhaupt zu Notunterbringungen kommen muss. "Das ist eine eklatante Menschenrechtsverletzung", wettert Volksanwalt Günther Kräuter und verweist auf die UN-Kinderrechtskonvention.

Den Ausbau begrüßt er genauso wie die die Wiener Patientenanwaltschaft. Hier sagt man aber auch, dass es laut Bettenmesszahl eigentlich 128 bis 208 Betten sein sollten. Man spricht hier von einer Bettenmesszahl. Unter dem Betreuungspersonal am AKH herrscht ebenfalls die Meinung: "113 sind zwar besser, aber noch nicht gut genug." Die Patientenanwaltschaft sieht die Problematik nicht nur in den Betten für den stationären Aufenthalt. Auch in der Vor- und Nachbetreuung gebe es eklatante Mängel.

Nicht nur Betten zählen

Georg Psota, Chefarzt der Psychosozialen Dienste (PSD) , und Ewald Lochner, Koordinator für Psychiatrie, Sucht- und Drogenfragen der Stadt Wien, wollen das Problem auch nicht an Betten abzählen. Es gäbe ambulante Einrichtungen zur Vor- und Nachbetreuung, man müsse darauf achten, dass Kinder- und Jugendliche nur in Ausnahmefällen stationär aufgenommen werden. In der Kölblgasse in Wien-Landstraße gibt es ein Kinder- und Jugendpsychiatrisches Ambulatorium, dessen Leiter Karl Steinberger stolz durch die Räumlichkeiten führt. Auch er will wissen, in welchem Umfeld die Patienten leben, was in der Mehrzahl die Störungen bewirkt hat und wie die Nachbetreuung und Integration in den Alltag möglich sein könnten. Im Rahmen des Psychiatrischen und Psychosomatischen Versorgungsplans (PPV) für Wien wird ein weiteres kinder- und jugendpsychiatrisches Ambulatorium errichtet.

Kinder- und Jugendpsychiatrie AKH
Foto: Hendrich

Kräuter sagt, dass Österreich insgesamt großen Nachholbedarf habe. In der Steiermark und im Burgenland gebe es keinen einzigen Kinder- und Jugendpsychiater, der über die Sozialversicherungsträger bezahlt wird, in Wien immerhin sechs. In Graz wurde erst beschlossen, eine Vollprofessur für Kinder- und Jugendpsychiatrie einzurichten.

Szenenwechsel: Krankenhaus Hietzing. Ralf Gössler, Vorstand der Kinder- und Jugendpsychiatrie, sagt, jeder einzelne Tag in der Erwachsenenpsychiatrie sei ein Tag zu viel – aber man entscheide sich nur dann für die Erwachsenenpsychiatrie, wenn nirgendwo sonst ein Bett frei sei und ein stationärer Aufenthalt nötig werde. Gössler sagt, um zu beruhigen: "Zwei bis drei Tage nach einer Aufnahme prüft das Gericht immer, ob der Aufenthalt gerechtfertigt ist." Im Hintergrund hört und sieht man, wie die Station ausgebaut wird.

Schulische Probleme

Warum kommen Kinder und Jugendliche in diese Situation? Die Vorstellungsgründe sind höchst unterschiedlich, meistens seien es aber reaktive Störungen, sagt Gössler. Störungen also, die infolge eines Erlebnisses entwickelt werden. Zu 25 Prozent sind es schulische Probleme, ein Drittel davon hat mit Angststörungen zu kämpfen, sagt die Psychotherapeutin Brigitte Sindelar, Vizerektorin der Sigmund-Freud-Universität in Wien, die der Schule von Alfred Adler, der Individualpsychologie, folgt. Adler nannte diese Störungen "Kinderfehler", um die Patienten nicht zu stigmatisieren, erzählt Sindelar. Gössler meint dazu: "Wir kriegen die Kinder, die auffallen." Es waren auch schon dreijährige Buben mit Betreuungsperson darunter. Der Experte sagt, dass es unter den Kindern (bis zwölf Jahre) hauptsächlich Buben sind, die gebracht werden, weil sie mit Aggressionen zeigen, dass etwas mit ihnen nicht in Ordnung ist.

Die Mädchen dagegen würden eher still leiden, weinen. Erst in der Pubertät werden ihre Probleme deutlicher sichtbar, das Bild kehrt sich um, und mehr Mädchen werden bei Psychiatern und Psychotherapeuten vorstellig – nicht selten nach Selbstverletzungen. Laut Gössler wird Onlinespielsucht unter Jugendlichen mehr. Ein Jugendlicher geht tagelang nicht in die Schule, um ein Spiel zu gewinnen, bei dem Anwesenheit erforderlich ist. Er trägt sogar Windeln, um immer präsent zu sein, schläft nicht. Derartige Fälle sollen schon vorgekommen sein.

Drei Spitzenzeiten im Jahr

Und wann kommen die Kinder? Spitzenzeiten sind kurz nach Schulbeginn und vor den beiden Zeugnissen. Da komme es auch zu Selbstmordversuchen. Mädchen, die auf Brücken vom Sturz in die Tiefe abgehalten werden, hat man in der Psychiatrie schon behandelt, aber auch Jugendliche, die übermäßigen Alkoholkonsum an den Tag legen. Das kann, sagt Sindelar, ein "versteckter, ganz unbewusster Selbstmordversuch" sein. Die Therapeutin erzählt auch von Suizidgedanken legasthenischer Kinder. Sie seien verzweifelt gewesen, hätten sich gefragt: "Was soll nur aus mir werden?"

Sindelar fordert deshalb, dass die Gesellschaft die Lebensrealität der Kinder- und Jugendlichen besser wahrnehmen und im Ernstfall genauer untersuchen sollte. Viele Befunde würden zu schnell erstellt. Ein sechsjähriger Bub, der ein ungewohntes, für einen solchen seltsames Verhalten an den Tag legt, sollte nicht gleich mit psychiatrischen Diagnosen stigmatisiert und in eine Schublade gesteckt werden. Im besonderen Fall war es die Reaktion auf den tödlichen Motorradunfall seines geliebten großen Bruders, eine kindliche Form der Trauer. Es gehe darum, das Umfeld kennenzulernen. Erst dadurch werde man der Aufgabe gerecht, Heranwachsenden mit Problemen gute Chancen zu geben. (Peter Illetschko, 15.9.2018)