Liam ist ein aufgeweckter Achtjähriger, der einen Hund hat und in Computerspielen gerne mit schnellen Autos unterwegs ist. Weil er eine Körperbehinderung hat, sagt Liam seinem Hund über einen Sprachcomputer, was er von ihm will, und auch die Spiele auf seinem Computer steuert er nicht mit einem Play-Stick, sondern mit den Augen. Dank des großen Einsatzes seiner Mutter und nicht zuletzt dank ihrer Computerkompetenz hat er bereits mit drei Jahren begonnen, für die Kommunikation einen augengesteuerten Sprachcomputer zu verwenden, mittlerweile ist er darin ein Profi.

Seinen Sprachcomputer hat der Bub am Rollstuhl immer fix dabei. So kann er in der Schule dem Unterricht gut folgen, lernt lesen, schreiben und rechnen, wie es für Kinder seines Alters üblich ist. Während einer Pressekonferenz der neuen Diakonie-Direktorin Katharina Moser antwortet Liam auf die Frage einer Journalistin nach seinem Lieblingsgegenstand ohne Zögern: "Sachunterricht". Der Sprachcomputer gibt ihm eine Stimme, um seine Gedanken, Wahrnehmungen und Bedürfnisse in der jeweiligen Situation individuell, persönlich und selbstbestimmt auszudrücken.

Liam bedient seinen augengesteuerten Sprachcomputer.
Foto: APA/Herbert Neubauer
Foto: APA/Herbert Neubauer

Vorenthalten von Hilfsmitteln als eine Form von Gewalt

Dass Kinder wie Liam bedarfsgerecht mit modernen und zweckmäßigen technischen Hilfsmitteln ausgerüstet sind, ist in Österreich keinesfalls eine Selbstverständlichkeit. Weder gibt es flächendeckend qualifizierte Beratung darüber, welche Hilfsmittel es gibt und welches für ein konkretes Kind sinnvoll wäre, noch ist die deren Finanzierung sichergestellt. Aufgrund der Länderkompetenz in der Behindertenhilfe gibt es in jedem Bundesland andere Regelungen und Ansprüche. Das erfordert von den Eltern viel Zeit und Engagement, um technische Hilfsmittel für ihren Sohn oder ihre Tochter mit Behinderung zu organisieren. Sie müssen quasi mit dem Klingelbeutel bei Kranken- und Sozialversicherungen, bei Sozialabteilungen, Hilfsfonds und sonstigen Gönnern um die Finanzierung ansuchen, fühlen sich dabei oft als Bittstellerinnen und Bittsteller. "Es bleibt immer ein Teilbetrag übrig, den Familien entweder selbst zahlen oder durch Spendensammlungen auftreiben müssen", berichtet Liams Mutter aus eigener Erfahrung. Regelmäßige Berichte in Lokalmedien mit Fotos der Scheckübergabe von Charity-Aktionen an Familien mit einem behinderten Kind illustrieren und bestätigen diese Erfahrung. Vielen Kindern, aber auch vielen erwachsenen Menschen mit Behinderungen daher oft gar keine Kommunikationstechnologien zur Verfügung.

In der einschlägigen Fachliteratur zu Gewalt an behinderten Menschen wird das Wegnehmen, das Kaputtmachen und auch das Vorenthalten von technischen Hilfsmitteln als eine behinderungsspezifische Form von Gewalt beschrieben. Das heißt: Eine Form von Gewalt, die behinderte Menschen nur deshalb erleben, weil sie mit Behinderungen leben. In diesem Sinn drängt sich die Frage auf, ob durch das zersplitterte, nicht kostendeckende und für Betroffene in der Praxis oft demütigende System der Hilfsmittelfinanzierung nicht strukturell Gewalt an behinderten Menschen ausgeübt wird.

Rechtsanspruch auf assistierende Technologien

Bei der Diakonie schätzt man, dass etwa 63.000 Menschen mit Einschränkungen der Lautsprache leben, darunter viele Kinder. Behindertenorganisationen fordern schon lange eine österreichweite Vereinheitlichung der Finanzierungsstruktur für Hilfsmittel und selbstverständlich auch die Kostenübernahme durch die gesetzlichen Kranken- und Sozialversicherungen beziehungsweise die öffentliche Hand. Dies wird nun auch aktiv von der Diakonie unterstützt, wie deren neue Geschäftsführerin betont: "Behinderte Menschen dürfen nicht von Almosen abhängig sein, die Verantwortung liegt bei der öffentlichen Hand." Sie werde sich bei Gesprächen mit der Bundesregierung für einen Rechtsanspruch auf assistierende Technologien, eine Anpassung des veralteten Hilfsmittelkatalogs sowie eine zentrale Anlaufstelle einsetzen. Dass dies ausgerechnet bei der Übergabe von Adventkränzen an die Regierungsmitglieder in der Vorweihnachtszeit erfolgen soll – offensichtlich eine langjährige Tradition bei der Diakonie –,  dämpft allerdings die Hoffnung darauf, dass dieses wichtige Anliegen gehört und richtig verstanden wird: Genau zu dieser Zeit wird den Menschen in Österreich alljährlich von der Licht-ins-Dunkel-Maschinerie in Endlosschleifen der Mitleids- und Wohltätigkeitsmodus gegenüber behinderten Kindern in die Köpfe getrichtert. Tatkräftig unterstützt von Bundes- und Landespolitikerinnen und -politikern aller Couleurs.  

Liam beantwortet per Augensteuerung mit seinem Computers die Fragen der Journalisten.
Foto: Flieger

In der Schule integriert?

Bei der Pressekonferenz taucht dann am Rande übrigens noch ein anderes Thema auf: Wo geht Liam in die Schule? Ein so aufgewecktes und offensichtlich begabtes Kind wie er müsste mehr als 20 Jahre nach der Verankerung des Rechts auf schulische Integration in Österreich und zehn Jahre nach der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention doch selbstverständlich in seinem Wohnort integriert zur Schule gehen, würde man vermuten.

Die Volksschule im Ort sei nicht barrierefrei, ihr Sohn besuche eine Sonderschule, erzählt die Mutter. Dafür müssen er und sie jeden Tag sehr früh aufstehen, denn zehn Minuten nach sechs Uhr wird Liam vom Sonderfahrtendienst abgeholt, mit dem er dann eine Stunde unterwegs ist, sowohl zur Schule hin, als nachmittags auch wieder zurück. Einem behinderten Kind in Österreich wird dies selbstverständlich zugemutet, auch die Finanzierung solch aussondernder Strukturen wird scheinbar nicht in Frage gestellt. Nach der Volksschulzeit würde Liam gerne im Nachbarort in die Neue Mittelschule gehen, aber auch hier scheinen sich bereits Probleme abzuzeichnen, wie seine Mutter andeutet. Bleibt zu befürchten, dass von ihr noch viel Einsatz für die Gleichstellung, Integration und qualifizierte Bildung ihres Sohnes notwendig sein wird. (Petra Flieger, 24.9.2018)

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