Bereits zu Lebzeiten des großen Aufführers und Aufrührers Nikolaus Harnoncourt fragten sich manche hinter vorgehaltener Hand, wie es einst mit seinem Orchester weitergehen würde – und ob überhaupt. Denn seit 1953 hatte er den Concentus Musicus gemeinsam mit seiner Frau Alice aufgebaut und völlig in den Dienst seiner Sache gestellt.

Bühnengreifende Präsenz: Marlis Petersen in der Titelrolle als Alcina.
Foto: APA/Herwig Prammer

Dabei gab es etliche starke Charaktere unter seinen Mitstreitern, ein eigentlicher Nachfolger war aber nicht in Sicht. Die Stafettenübergabe erfolgte dann kurz vor Harnoncourts Tod im März 2016 geradezu überfallsartig schnell an seinen langjährigen Continuo-Spieler und Assistenten Stefan Gottfried. Mit einer Mischung aus Vorschusslorbeeren und vorsichtigem Vertrauen trugen alle wichtigen Partner die Weichenstellung mit und erlebten von Beginn an einen durchaus inspirierten Dirigenten – doch mit einer völlig anderen Persönlichkeit.

Kein Aufrührer

Gottfried ist beileibe kein Aufrührer, statt der manchmal überschießenden, extremen Energie seines Vorbilds verströmt er beständige, solide Genauigkeit, durch die spontane Impulse erst gefiltert und gelenkt erscheinen. Das große Wort eines "Nachfolgers" ist aufgrund der Unterschiedlichkeit des Zugangs nur bedingt angebracht, und doch wurde in den vergangenen beiden Jahren deutlich, wie sehr Gottfried das herausfordernde Erbe auf seine Weise weiterzuführen vermag. Dabei darf die aktuelle Produktion von Händels Alcina im Theater an der Wien womöglich jetzt schon als Meilenstein gelten.

Unter Gottfrieds Leitung (offiziell gemeinsam mit den langjährigen Geigern Erich Höbarth und Andrea Bischof) hat sich der Concentus Musicus nun endgültig konsolidiert, altgediente und neue Kräfte bilden ein verändertes Kollektiv, das etwas weniger jenes Risiko durchklingen lässt, das unter Harnoncourt geradezu eine Maxime bildete.

Neue Farbigkeit

Unter Gottfried erblüht stattdessen bei diesem Händel eine Vielzahl neuer Farbigkeit, eine weniger fragile, doch hochdifferenzierte Klangkultur voller Ausdruckskraft und Energie. Sein Dirigat ist nicht weniger gestisch durchgebildet, doch erlaubt es einen durchgehenden, natürlich wirkenden Fluss, schroffe Akzente sind eher eingebettet, als dass sie störend wirken würden.

Die neue Klangkultur erstreckt sich auch auf das durchwegs hervorragende Sängerensemble: Hier hat man sich offenkundig auf eine enorme stilistische Homogenität geeinigt und dabei wunderbar frisch wirkende Ornamente jenseits des bloß Virtuosen eingearbeitet. Einige, nein, viele Momente glichen unerhört schillernden Perlen.

An der Spitze des Ensembles hatte sich Marlis Petersen in der Titelpartie als physisch indisponiert ansagen lassen (Intendant Roland Geyer brachte die Mitteilung halb humoristisch, die "Hexe" habe am Vormittag vor der Premiere ein "Hexenschuss" ereilt). Davon zu spüren war für das Publikum freilich nichts – stattdessen durfte man eine verblüffend flexible Verbindung aller vokalen Anforderungen mit der gewohnten Ausdruckskraft und eine bühnengreifende Präsenz erleben.

Inszenierung blieb zurück

Darstellerische Wirkung und vokale Souveränität verströmten sämtliche Beteiligte – und das ist auf der Musiktheaterbühne normalerweise schon gar nicht so wenig. Das Theater an der Wien hat freilich für sich ein eigenes Niveau definiert, hinter dem die Inszenierung von Tatjana Gürbaca diesmal etwas zurückblieb.

Eine karge Felslandschaft: Da lässt selbst der einzige Baum die Blätter fallen.
Foto: APA/Herwig Prammer

Eindrücklich wirkt zwar die von verschiedenen Witterungen heimgesuchte Felslandschaft in der Ausstattung von Katrin Lea Tag, doch bleibt das Treiben der handelnden Personen trotz starker Bilder merkwürdig steril und abstrakt.

Die Kühle der Szene hinderte jedoch nicht, dass die Premiere einhellig stürmisch gefeiert wurde. (Daniel Ender, 16.9.2018)