Ich entscheide hiermit, es wird riskiert." Ernst Leitz' II. Entschluss von 1924 hatte weitreichende Folgen: Er bedeutete die Markteinführung der Leica-Kleinbildkamera, die wiederum die Fotografie revolutionierte und dieser zum Durchbruch als Breitenphänomen verhalf. "Risiko", das passt auch auf die beiden anderen Aspekte dieses Beitrags: Lotte, Goethe, Werther und das Wagnis Liebe, Leidenschaft, Kia und das Wagnis Europa. Der andere gemeinsame Nenner lautet: Wetzlar.

Die Begegnung mit Charlotte "Lotte" Buff 1772 inspirierte Goethe zu seinen "Leiden des jungen Werthers"
Foto: Andreas Stockinger

Hier traf der Dichterfürst 1772 Charlotte Buff, der 23-Jährige war verzaubert. Und er verarbeitete Begegnung und Bewegung in den Leiden des jungen Werthers, dokumentiert auch im hübschen Lotte-Haus der hessischen Kleinstadt: "Da ich in die Tür trat, fiel mir das reizendste Schauspiel in die Augen, das ich je gesehen habe."

Bewusstmachung

Sehen können ist heute eine eigene Kunst, Wahr-Nehmen: Unser Blick ist verdorben durch die tägliche Bilderlawine, die ständige Handyknipserei und das Reinkübeln in asoziale Medien entwertet jedes Bild. Da hilft nur wie in vielen Lebensbereichen (Wieder-)Bewusstmachung. Leica-Lichtbildnern stellt sich das Problem nicht so vordergründig, Ästheten wie Hyundai-Kia-Chefdesigner Peter Schreyer auch nicht, und damit wären wir bei Kias Wagnis.

Enttarnt sieht der ProCeed dann so aus: lifestyliges Shooting Brake.
Foto: Kia

Schönheit, Leidenschaft: Vor wenigen Jahren führte Schreyer Kia zur Korea-, wenn nicht gar Fernostdesignführerschaft unter Asiens Autobauern. Mit dem Stinger setzte er jüngst einen weiteren Markstein, mit dem ProCeed folgt der nächste. Knapp vor Enthüllung des Schönlings in Barcelona hatte der Standard Gelegenheit zu einer ersten, exklusiven Ausfahrt von Kias Europazentrale in Frankfurt nach eben Wetzlar. In Camouflage-Look, aber das wahre Aussehen ist ja kein Geheimnis mehr.

Wir haben den Fotografen Gilbert Haake bei der Arbeit belauscht – der zugleich in seinen Hauptagenden Pressechef von Kia Österreich ist.
Foto: Andreas Stockinger

Gilbert Haake, Pressechef des Importeurs in Österreich und selbst begnadeter Leica-Fotograf, hatte die Idee geboren – ein Schelm, wer da nicht gleich Feuer und Flamme wäre.

Bekenntnis zur Alten Welt

Was aber ist gemeint mit Risiko, Wagnis Europa? Nun. Normalerweise orientieren sich Hersteller heute am globalen Gusto. SUV zieht immer und überall, Limousine und Coupé immer weniger, Kombi schon gar nicht, Ausnahme: (Mittel-)Europa. Es muss einen asiatischen Hersteller schon Überwindung kosten, sich so eine Investition anzutun. Das spricht für ein Bekenntnis zur Alten Welt.

Produktion der Leica-Preziosen.
Foto: Kia

Kia tut sich das im Ceed-Fall an. Zwar ist der Dreitürer – das Coupé – Geschichte, so was kauft im Massensegment kaum mehr jemand. Dafür hat Schreyer sich aber das Kombikonzept hergenommen und eine Coupé-Linie drübergezogen. Nennt sich bei Mercedes Shooting Brake, bei Kia ProCeed und ist ein bildschönes Gerät, um in der Wetzlar-Leica-Terminologie zu bleiben. Der Verkauf startet im Jänner, der Kofferraum ist um einen Tick kleiner als beim Ceed Kombi (SW) und weniger kommod zu beladen, die Gesamterscheinung des Schönlings aber um Eckhäuser ansprechender.

Leitz-Park

Eckhäuser sind ein Stichwort für einen Schlenker zu Leica, zum Leitz-Park. Das Gewerbegebiet vor den Toren Wetzlars, umfasst neben Firmensitz und Produktionsstätte – im Grundriss schwungvoll einer Leica-Kamera nachempfunden – etliche Baulichkeiten (darunter ein Hotel, die Leica-Akademie und bald ein Leica-Museum, der Bau derzeit noch bespielt mit der Fotokunstschau Augen Auf!), die sukzessive in Betrieb gehen.

Kameralegenden in den Vitrinen der Leica-Zentrale ausgestellt.
Foto: Kia

Eben erst, im Juni, sei der Leitz-Park eröffnet und für Besucher erschlossen worden, erläutert Kommunikationsleiterin Sibylle Voll im Gespräch im schicken weißen Café Leitz vor dem Haupteingang; draußen plätschern die Wasserspiele, wiegen sich sacht die Ziergräser im Altweibersommer. Der Mythos Leica, so Voll, locke viele an. Das Publikum entstamme der Region, etliche kämen aber auch aus ganz Deutschland, Europa, Fernost. Schon werden hier auch Hochzeitsfotos gemacht, tollt die Jugend mit Skateboards herum, verbringen Eltern mit Kindern Zeit, zieht Leben ein. Und klar, Leicas kaufen kann man auch.

Ausstellungen

Im Hauptquartier wird unter anderem eine Galerie mit vier bis fünf Wechselausstellungen jährlich bespielt, der Salzburger Künstler Dieter Huber etwa stellte dort im vergangenen Herbst aus.

Foto: Kia

Salzburg? Leica selbst, damals in finanzieller Schieflage, gehört seit Herbst 2006 dem in der Mozartstadt lebenden Unternehmer Andreas Kaufmann. 2014 zog Leica Camera in die neue Zentrale im Leitz-Park ein, 750 bis 800 Mitarbeiter am Standort sorgen heute für Erhalt und Zukunft des Mythos Leica. Es wird riskiert. Fein. So schafft man Wert und Werther.

Faustische Conclusio Lotte, Leica, ProCeed: Ihr glücklichen Augen, was je ihr gesehn, es sei wie es wolle, es war doch so schön! (Andreas Stockinger, 19.9.2018)