Was bedeutet für Ungarn und für die EU das vom Europaparlament in der Vorwoche mit einer überraschend deutlichen Zweidrittelmehrheit (ohne Enthaltungen) beschlossene Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags, das bis zum Entzug der Stimmrechte führen könnte? Der unversöhnliche Auftritt des nach Dienstjahren (die zwischen 1998 und 2002 hinzugerechnet) ältesten Regierungschefs Europas vor dem EU-Parlament und bei der Fraktionssitzung der Europäischen Volkspartei (EVP) verblüffte und irritierte viele EVP-Abgeordnete und trug zu seiner vieldiskutierten Schlappe vor der Weltöffentlichkeit bei.

Was ist passiert? Die virtuose Beherrschung der Verhandlungstaktik mit und in der EU hatte er selbst in einem verräterischen, weil improvisierten Zusatz in einer Festrede anlässlich des zweiten Jahrestages der Angelobung der Fidesz-Regierung (31. 5. 2012) als "Pfauentanz" bezeichnet. Wie kann man mit gespaltener Zunge zu den Kritikern in den Führungsorganen der EU sprechen und sie so meisterhaft hinters Licht führen, dass sie den (falschen) Eindruck gewinnen, die ungarische Seite hätte nachgegeben, obwohl sie in Wirklichkeit unbeirrbar den eigenen Kurs fortsetzt: "Wegen der Tanzordnung der Diplomatie müssen wir die Ablehnung so präsentieren, als ob wir uns mit ihnen befreunden möchten. Dieses komplizierte Spiel ist eine Art Pfauentanz."

Bestochene Opposition

Es wäre also unklug, diesen zutiefst zynischen Berufspolitiker, der seit 30 Jahren trickst, intrigiert, manipuliert, als eine beleidigte Leberwurst zu betrachten. Denn er geht im eigenen Land mit der Niederlage in Straßburg überhaupt kein Risiko ein. Im Gegenteil: Die Verteidigung der Nation gegen die Angriffe der "einwanderungsfreundlichen" Politiker und Bürokraten aus Brüssel und gegen die einheimischen "Söldner" des ungarisch-amerikanischen Milliardärs George Soros wird mit Sicherheit das Hauptthema der im Oktober anlaufenden Wahlkampagne sein. Das Elend der gespaltenen und zum Teil bestochenen Opposition, die an die kommunistische Ära erinnernde, fast totale Kontrolle der Medien (mit der Ausnahme von RTL und einigen kleinen Zeitungen), die Beherrschung der Justiz und der Polizei und vor allem seine unangreifbare Machtstellung an der Spitze der Fidesz-Partei und ihrer Parlamentsfraktion bieten die Gewähr, dass er in jeder wichtigen Frage nach Belieben entscheiden kann.

Und in der Außenpolitik? Das Verfahren in den EU-Gremien wird mit Sicherheit weit über den Stichtag für die EU-Wahlen hinaus dauern, und selbst im Falle von für Ungarn negativen Entscheidungen kann Orbán angesichts der Einstimmigkeitsregeln mit dem Veto Polens rechnen, genauso wie er dem von der EU-Kommission angeklagten Polen schon jetzt die Rückendeckung Ungarns angekündigt hat. Die einzige Gefahr wäre, wenn die EU wegen der Korruptionsvorwürfe die fast fünf Prozent des Sozialproduktes ausmachenden jährlichen Transfers im EU-Budget 2020-2027 verringern würde. Wer weiß aber, was alles noch in den nächsten Jahren geschehen wird. Orbán und seine rechtspopulistischen Freunde in Deutschland und Italien erwarten jedenfalls bei der EU-Wahl europaweit massive Stimmengewinne. (Paul Lendvai, 17.9.2018)