Bereits am Dienstag stand die Salzburger Felsenreitschule unter verstärkter Beobachtung der Polizei.

Foto: Matthias Cremer

Kanzler Kurz: "Es geht jetzt vor allem darum, die illegale Migration zu stoppen."

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STANDARD: Sie haben gerade eine Hauptstadttour in Madrid, Berlin, Paris und Rom hinter sich. Was ergibt sich daraus an Erwartungen für den EU-Gipfel von Salzburg?

Kurz: Die Debatte über Migration hat sich massiv verändert, aus meiner Sicht in die richtige Richtung. Wenn man sich die Gesprächsprotokolle von vor ein oder zwei Jahren ansieht und mit heute vergleicht, kann man sich kaum vorstellen, dass das dieselben Gesprächspartner sind, die darüber reden.

STANDARD: Heißt was?

Kurz: Der Streit über die Verteilung der Flüchtlinge, der lange alles dominiert hat, steht nicht mehr im Vordergrund. Fast alle haben eingesehen, dass die Frage der Migration nur an den EU-Außengrenzen gelöst werden kann. Daher gibt es jetzt zu Recht einen Fokus auf die Stärkung der EU-Grenzschutzbehörde Frontex und die bessere Kooperation mit den Herkunfts- und Transitländern.

STANDARD: Der französische Präsident Macron hat sich sehr dezidiert geäußert, was die Rückführung von abgelehnten Asylwerbern betrifft. Aber das ist im Prinzip alles schon im Juni beschlossen worden. Was ist jetzt neu?

Kurz: Im Juni hat eine Veränderung in den Köpfen stattgefunden. Jetzt muss das umgesetzt, konkretisiert werden. Es wird dazu in Salzburg eine Diskussion geben. Jean-Claude Juncker hat einen Vorschlag gemacht, wie das Mandat von Frontex erweitert wird und wie Rückführungen dadurch auch effektiver werden sollen. Einige Mitgliedsstaaten sind da noch etwas skeptisch. Die müssen wir überzeugen.

STANDARD: Welche Staaten?

Kurz: Italien, Spanien, Griechenland. Es braucht eine Verständigung aller, dass wir mit den Transitländern und Herkunftsländern in Kontakt treten müssen, Abkommen schließen müssen.

STANDARD: Wie stark ist der Druck von Deutschland und Frankreich, dass es dann bis zum regulären Gipfel im Dezember konkrete Beschlüsse gibt?

Kurz: Ich hoffe das sehr. Dieser Gipfel in Salzburg kann ein wichtiger Zwischenschritt dorthin sein.

STANDARD: Was ist konkret strittig am neuen Mandat von Frontex? Dass EU-Beamte in nationale Kompetenzen eingreifen können sollen?

Kurz: Es geht den skeptischen Staaten vor allem um ihre Souveränitätsrechte, auch darum, dass manche Sorge vor einer besseren Registrierung der Migranten haben. Sie dürften jetzt nicht wirklich unglücklich darüber sein, dass viele Ankommende jetzt unbemerkt nach Mitteleuropa weiterziehen oder weitergewunken werden.

STANDARD: Man redet immer nur über restriktive Maßnahmen, über Abwehr von Migranten, aber mit einer gemeinsamen Migrations-, Asyl- und Einwanderungspolitik hat das wenig zu tun.

Kurz: Der eingeschlagene Weg ist richtig, aber er kann natürlich nur Schritt für Schritt umgesetzt werden. Beginnen muss man an den Außengrenzen. Das müssen wir als Erstes zustande bringen.

STANDARD: Die EU hat mit der Türkei einen Pakt gemacht, sechs Milliarden Euro aufgewendet, damit Flüchtlinge dort gut versorgt werden, und die Union brachte auch Flüchtlinge direkt von dort nach Europa. Warum gelingt es im Inneren der Union nicht, so einen Pakt zu machen?

Kurz: Das ist überhaupt nicht vergleichbar. Der Türkei-Deal hatte das Ziel, dass Menschen gar nicht erst die Möglichkeit hatten, in Europa einen Asylantrag zu stellen, sondern in der Türkei aufgehalten werden. Das Hauptziel war nicht, der Türkei Flüchtlinge abzunehmen.

STANDARD: Warum sollte die EU nicht einen Fonds auflegen und mit sechs Milliarden Euro ausstatten, um jene Mitgliedsländer zu belohnen, die viele Migranten aufnehmen?

Kurz: (lacht) Die Deutschen und auch wir wären jederzeit gerne bereit, von der EU dafür viel Geld zu nehmen! Aber machen wir uns nichts vor. Es ist lange versucht worden, die Migrationsfrage durch Verteilung zu lösen. Es hat nicht funktioniert. Es ist nicht die Lösung.

STANDARD: Man hört nichts von der Dublin-Reform, den angestrebten neuen gemeinsamen Regeln für Asylverfahren. Warum?

Kurz: Es geht jetzt vor allem darum, die illegale Migration zu stoppen. Das Geschäft der Schlepper muss zerstört werden, damit auch, dass so viele Menschen im Mittelmeer ertrinken. Gleichzeitig müssen wir Resettlementprogramme, Umsiedelungsprogramme machen. Jeder Staat kann dann entscheiden, wie viele er aufnehmen will.

STANDARD: Es will aber kaum jemand, wie kommt man da hin?

Kurz: Es gibt diese Programme schon, mit der Internationalen Organisation für Migration. Es geschieht aber nichts oder nur sehr reduziert, weil die Staaten überfordert sind bei der Versorgung von illegalen Migranten und jenen, die einen positiven Bescheid bekommen haben. Wenn wir uns anschauen, wer im Moment nach Europa durchkommt, ist zudem klar, dass das nicht die Ärmsten sind, sondern Menschen aus afrikanischen Mittelstandsfamilien, die sich einen Schlepper leisten können. Das ist kein gerechtes System, es gehört beendet.

STANDARD: In Berlin haben Sie gesagt, dass es zwischen den Staaten eine starke Polarisierung gibt und da und dort eine aufgeheizte Stimmung von Vorwahlkampf für die EU-Wahl 2019. Wie groß ist die Gefahr, dass die EU-skeptischen Rechtspopulisten vom Migrationsthema profitieren?

Kurz: Ich finde es schade, dass manche so früh in einen Wahlkampf eingestiegen sind. Zwischen Macron und dem ungarischen Premier Viktor Orbán ist das vielleicht aus wahltaktischen Gründen günstig. Aber es ist nicht hilfreich, um in der Sache Lösungen zu finden, um Gräben zuzuschütten und als Europäische Union geeinter zu werden. Dazu trägt das nicht gerade bei. Ich werde mich bemühen, meiner Linie treu zu sein, den Wahlkampf erst in den Wochen vor den Wahlen stattfinden zu lassen, aber nicht jetzt.

STANDARD: Sie haben sich als erster Regierungschef für die Initiative des EU-Parlaments ausgesprochen, dass gegen die ungarische Regierung ein Prüfverfahren wegen möglicher Verletzung von Grundrechten und Rechtsstaatlichkeit eingeleitet wird, gegen ihren Parteifreund Orbán. Das hat viele überrascht. Warum eigentlich?

Kurz: Ich habe klare Haltungen, das ist in der Migrationsfrage so, aber auch genauso in Fragen von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Das ist die Basis für das Erfolgsprojekt der Europäischen Union. Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte sind nicht verhandelbar. Wenn es Vorwürfe gibt, ist es gut, die zu prüfen, sie auszuräumen, wenn sie zu Unrecht erhoben wurden, und nachzubessern, wo sie zu Recht bestehen. Ich möchte aber auch klar festhalten, dass die Abstimmung im EU-Parlament weder eine Verurteilung noch ein Beweis ist, sondern schlicht der Start des Dialogprozesses mit Orbán.

STANDARD: Sie waren der erste Regierungschef, der das befürwortete.

Kurz: Ja, ich habe gesagt, wie wir als neue Volkspartei abstimmen werden. Ich habe da sehr klare Ansichten. Es gibt ohnehin zu viele Politiker, die nicht wissen, was sie wollen, die sich nach dem Wind drehen. In der Union müssen wir es alle sehr ernst nehmen mit der Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Medienfreiheit.

STANDARD: Was heißt das für die Mitgliedschaft von Orbáns Fidesz-Partei in der Fraktion der Europäischen Christdemokraten?

Kurz: Das hat darauf keine Auswirkungen. Es ist der Start eines Dialogprozesses zwischen Ungarn und der Kommission.

STANDARD: Befürchten Sie, dass Orbán sich jetzt der Plattform der Rechtspopulisten um die Lega von Matteo Salvini, Frankreichs extreme Rechte Marine Le Pen und die FPÖ anschließt?

Kurz: Davon gehe ich nicht aus. Ich habe auch nicht gehört, dass er das vorhat.

STANDARD: Wo ist Ihre Abgrenzung von den Rechtspopulisten? Sie regieren mit der FPÖ, rücken in Europa aber seit dem Sommer deutlich in die Mitte.

Kurz: Die Neue Volkspartei und die FPÖ sind zwei ganz unterschiedliche Parteien, die im Europäischen Parlament in unterschiedlichen Parteifamilien sind. Wir haben uns in einer Koalition auf ein Regierungsprogramm verständigt, das arbeiten wir professionell ab. Das ist gut so und zum Wohle Österreichs. Dass wir uns in Wahlkämpfen als Mitbewerber begegnen, war auch in den vier Landtagswahlkämpfen so. Das wird bei den EU-Wahlen so sein. Das ist ganz normal. Meinen Stil werde ich nicht verändern, wir patzen andere nicht an.

STANDARD: Wo ist die rote Linie zur FPÖ in der Europapolitik?

Kurz: Wir sind als Volkspartei die proeuropäische Partei schlechthin in Österreich. Wir sind aktives Mitglied in der EVP, der stärksten Kraft in Europa, stehen für ein gemeinsames Europa der starken Zusammenarbeit in den großen Fragen, das sich aber zurücknimmt in kleinen Fragen, in denen Regionen oder Mitgliedsstaaten selbst entscheiden können. Ich halte die Europäische Union für die größte Errungenschaft des 20. Jahrhunderts.

STANDARD: Sie scheinen sich auch Othmar Karas wieder mehr anzunähern. Wird er für die ÖVP antreten, als Nummer eins oder als Zweiter auf der Liste?

Kurz: Ich hatte immer ein ordentliches Verhältnis zu Othmar Karas. Ich schätze ihn als sehr aktiven proeuropäischen Parlamentarier.

STANDARD: Das zweite große Thema in Salzburg ist der Brexit, eine entscheidende Phase. Premierministerin May sagt, es gibt entweder ihren Deal oder keinen. Wie kritisch ist die Lage?

Kurz: Solche Zuspitzungen bringen uns nicht weiter. Es kann einen Deal nur geben, wenn es einen Kompromiss gibt, wenn beide Seiten sich bewegen. Wichtig ist, dass wir als EU-27 die Einheit halten und Michel Barnier, unseren Chefverhandler, möglichst unterstützen. Es ist klar, dass es kein Rosinenpicken geben kann. Es braucht aber auch keine Bestrafungsaktionen für Großbritannien. Ich hoffe, dass wir einen harten Brexit ohne Abkommen vermeiden können.

STANDARD: Ratspräsident Donald Tusk hat wissen lassen, dass es Mitte November einen Brexit-Sondergipfel geben könnte. Wie sicher ist das?

Kurz: Wir werden das den Mitgliedsstaaten beim Gipfel in Salzburg vorschlagen, darüber beraten. Ich hoffe, dass es eine Zustimmung zu diesem Vorschlag gibt und es dann gelingt, bis zu diesem Sondergipfel wirklich einen fertigen Deal auszuhandeln. Das wird alles andere als leicht werden.

STANDARD: Das heißt, Barnier verhandelt so weit wie möglich fertig, und die Staats- und Regierungschefs sollen dann im November die letzten Hürden aus dem Weg räumen?

Kurz: Ja. Wobei die große Herausforderung ist, dass es nicht nur einen Deal zwischen Theresa May und den EU-27 geben muss. Dieser muss dann auch noch eine Mehrheit im britischen Parlament bekommen, was eine zusätzliche Belastungsprobe sein wird.

STANDARD: Es könnte also alles im letzten Moment noch scheitern?

Kurz: Das hoffe ich wirklich nicht, aber es ist leider nicht ganz auszuschließen.

STANDARD: Wie wahrscheinlich ist es, dass der Brexit über März 2019 hinaus verschoben wird?

Kurz: Das ist derzeit kein Thema. Unser Ziel ist es, bis November einen Abschluss zu schaffen. (Thomas Mayer, 18.9.2018)