Gérard Collomb mit Emmanuel Macron in Lyon.

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Gérard Collomb war der Treueste der Treuen. Schon in der Präsidentschaftskampagne 2017 war er nie von Emmanuel Macrons Seite gewichen. Fast automatisch ernannte ihn der frisch gekürzte Präsident darauf zu seinem Innen- und Polizeiminister – ein Schlüsselposten in Terrorzeiten, ein Vertrauensamt.

Am Dienstag hat Collomb angekündigt, dass er nächstes Jahr abtreten werde. Er wolle wieder für das Bürgermeisteramt von Lyon kandidieren, begründete der frühere Stadtpräsident der Rhone-Stadt seinen Schritt. Viel Beachtung findet in Frankreich, dass Collomb der Provinzstadt Lyon den Vorzug vor dem Pariser Machtzentrum gibt. Und sich damit auch mit seinem ehemaligen Freund Macron überwirft.

"Mangel an Bescheidenheit"

Auslöser war Collombs Bemerkung, dass die Staatsführung einen "Mangel an Bescheidenheit" an den Tag lege und sich "zu sicher" fühle. Als ehemaliger Griechischlehrer würde er dafür das Wort "Hybris" verwenden, führte er aus; das bedeute nicht nur Hochmut und Selbstüberschätzung, sondern "Fluch der Götter".

Die französischen Medien führen den massiven Popularitätseinbruch Macrons vor allem auf seine Überlegenheitsallüren zurück. Über Collombs offene Worte war er laut Medienberichten so aufgebracht, dass er seinen Freund umgehend zu einer Aussprache einberief. Der 71-jährige Minister nahm aber offenbar nichts zurück. Er gilt zwar als amtsmüde und politisch geschwächt durch die Affäre des Elysée-Leibwächters Alexandre Benalla. Aber er hat gegenüber Macron auch Argumente.

Vor wenigen Tagen erweckte die Staatsführung erneut den Eindruck blinder Abgehobenheit, als Macron öffentlich einen arbeitslosen Gärtner zurechtwies. "Ich brauche nur über die Straße zu gehen und finde einen Job", meinte er zu dem einfachen Mann. Als die Sequenz in den sozialen Medien die Runde machte, rechneten die Macron-Berater der Nation vor, dass in Frankreich 300.000 Stellen offen seien. Das trifft in der Sache zu und wäre durchaus eine Debatte wert. Doch die rechthaberische und taktlose Reaktion Macrons und seines Beraterstabs wirkt einmal mehr verheerend.

Populärer Ex-Sozialist

Und sie bestätigt Collombs Einschätzung. Der bärbeißige, ehemals sozialistische Minister ist in Frankreich populär. Sein Schicksal erinnert an das zweier anderer Regierungskollegen, Umweltminister Nicolas Hulot und Sportministerin Laura Flessel, die unlängst den Hut genommen haben. Alle drei stehen in scharfem Kontrast zu all den abgehobenen Technokraten der Eliteverwaltungsschule ENA, die heute in Paris die Staatsgeschäfte lenken. Der innerste Machtzirkel im Elysée besteht aus "Enarchen", die sogar meist aus dem gleichen Lehrjahrgang wie Macron stammen. Das gilt für den Generalsekretär im Elysée, Alexis Kohler, Kabinettschef Patrick Strzoda oder den neuen Dienstvorsteher im Elysée, Jérôme Rivoisy.

Diese Schattenmänner ziehen im Elysée und damit auch in der Regierung und im Parlament die Fäden, ohne jemals in der Öffentlichkeit zu erscheinen. Auch platzieren sie ihre Leute bis weit über die Staatsführung hinaus: Der neue Vorsteher der Agence France-Presse, Fabrice Fries, entstammt der ENA genauso wie die Leiterin von Radio France, Sybil Veil. Sie entstammt sogar der gleichen Klasse wie Macron, der sogenannten "Promotion Léopold Senghor".

Niemand bremst Macron

Neu ist die Vorherrschaft der ENA in den Pariser Regierungsvierteln nicht; der Soziologe Pierre Bourdieu hatte diese "rechte Hand des Staates" schon vor einem Vierteljahrhundert angeprangert. Unter Macron wird die "Enarchie" aber zur "eigentlichen Partei des Präsidenten", wie anfangs des Jahres eine Gruppe anonymer Spitzenbeamter in einem Beitrag für die Zeitung "Le Monde" kritisiert hat.

Verheerend ist diese Entwicklung für Macron selbst: Wenn sein Umfeld nur noch aus jenen jungen, blitzgescheiten ENA-Abgängern besteht, die sich für die Crème des Staatsapparates, ja der Nation halten, ist niemand mehr da, um den ohnehin zur Hybris neigenden Präsidenten zu bremsen. Mit Collomb verliert Macron nicht nur einen Minister mit Bodenhaftung, sondern auch notgedrungen den Bezug zu den politischen Realitäten seines Landes. (Stefan Brändle aus Paris, 18.9.2018)