Für die Schönheiten Salzburgs dürfte Theresa May an diesem Mittwoch kaum Augen haben, von den abends servierten Köstlichkeiten ganz zu schweigen. Die britische Premierministerin will das festliche Abendessen beim informellen EU-Gipfel zu einem Appell an die 27 Staats- und Regierungschefs nutzen: London benötigt dringend Unterstützung vom Kontinent, wenn ein Brexit-Chaos vermieden werden soll. Gleichzeitig setzt May zu Hause das Parlament unter Druck: Es werde "meinen Deal geben oder no deal", sagte sie Montagabend der BBC.

Selbst die optimistischeren Angehörigen von Mays Team rechnen diese Woche mit keiner offiziellen Neudefinierung der harten EU-Verhandlungslinie. Ein paar freundliche Worte in Salzburg wären aber schon viel wert für die Tory-Vorsitzende, die in zwei Wochen den Jahresparteitag in Birmingham überstehen muss. Dort werden geballt jene EU-Feinde, angeführt von Boris Johnson, auftreten, die unter dem alliterativen Motto "chuck Chequers" (etwa: Auf den Müll mit Chequers) dem gleichnamigen Verhandlungskonzept der Premierministerin den Garaus machen wollen.

Drohungen mit dem Chaos

Das nach dem Landsitz der britischen Regierungschefin benannte Papier vom Juli stellt Mays Abkehr vom harten Brexit dar. Es redet einer engen Assoziation mit der EU das Wort; unter anderem will London die Brüsseler Regeln für den Güterverkehr übernehmen, hingegen bei Dienstleistungen eigene Wege gehen. Dadurch soll vor allem das knifflige Problem der inneririschen Grenze gelöst werden. Allerdings dürfte bis Jahresende zwischen den Verhandlungspartnern kaum mehr als eine feierliche Absichtserklärung zustande kommen. Hingegen hat sich das Vereinigte Königreich in Bezug auf Irland zu einer verbindlichen Lösung verpflichtet.

Gleichzeitig aber haben May und der zuständige Minister Dominic Raab in den vergangenen Wochen immer wieder auf die Möglichkeit des Chaos-Brexits hingewiesen. Dann wären alle Vereinbarungen vom Tisch, auch die bereits getroffenen Regelungen für EU-Bürger auf der Insel sowie die britischen Zahlungen an Brüssel von rund 40 Milliarden Euro.

Wie ernst immer mehr Unternehmen diese Möglichkeit ins Auge fassen, machen zwei Entscheidungen führender Automobilhersteller deutlich. Informationen von Sky News zufolge plant BMW die Schließung des höchst lukrativen Mini-Werks in Oxford für den gesamten Monat nach dem Austrittstermin am 30. März. Jaguar Landrover gab am Montag für eines seiner Werke die Dreitagewoche bis auf weiteres bekannt – begründet mit der Unsicherheit.

Neues Referendum möglich

Unterdessen sieht sich die Führung der oppositionellen Labour-Party auf dem eigenen Parteitag kommende Woche in Liverpool mit der Forderung konfrontiert, die bisherige Brexit-Linie zu ändern. Sprecher Keir Starmer verurteilte Mays Alternative als "inakzeptabel"; das Parlament müsse eine echte Möglichkeit haben, am Verhandlungsergebnis der Regierung Kritik zu äußern.

Der in London gehandelte Zeitplan sieht erst für den EU-Gipfel im Oktober ein neues Mandat für EU-Chefunterhändler Michel Barnier vor. Im besten Fall würde dies den Weg freimachen für eine Einigung mit Raab rechtzeitig zu einem Brexit-Sondergipfel Mitte November (siehe oben). Dann muss der Deal von Unterhaus und EU-Parlament abgesegnet werden.

Freilich hat May im Unterhaus keine Mehrheit. Mehrere Dutzend harter EU-Feinde haben angekündigt, sie würden einem auf Chequers basierenden Kompromiss die Zustimmung verweigern. Aus anderen Gründen will die Opposition gegen May stimmen: Labour wünscht sich Neuwahlen, die den Parteichef Jeremy Corbyn in die Downing Street befördern könnten. Sollte May im Unterhaus scheitern, könnte sie zu einem Mittel greifen, das schon bisher eine zunehmend große Gruppe von Labour-Abgeordneten sowie am Dienstag auch der Chef der Liberaldemokraten, Vincent Cable, fordern: ein zweites Referendum. Zur Wahl stünde dann Mays Deal oder der EU-Verbleib. (Sebastian Borger aus London, 18.9.2018)