Salzburg/Wien – Der frühere Bundeskanzler Christian Kern wird sich nicht nur als Listenerster der SPÖ bei der Europawahl im Mai 2019 bewerben. Er wird sich gleichzeitig auch um den Platz als gemeinsamer Spitzenkandidat von Europas Sozialdemokraten und somit um die Nachfolge von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bewerben. Dies wurde dem STANDARD am Mittwoch aus höchsten Parteikreisen der SPE bestätigt.

Die Parteichefs der roten Schwesterparteien – darunter einige Regierungschefs – werden sich am späten Nachmittag vor dem EU-Gipfel in Salzburg treffen und die Lage beraten. Es wird erwartet, dass Kern dort seine Pläne erklärt und auch ankündigt, dass er sich um eine Kandidatur bewerben wird. Da die Wahl des nächsten Kommissionspräsidenten immer mit einem größeren Personalpaket zwischen den Staaten verbunden ist, würde der Ex-Kanzler automatisch im Rennen um EU-Topjobs sein.

So wie bei Europas Christdemokraten wird der gemeinsame EU-Spitzenkandidat am 8. Dezember in Lissabon bei einem Parteikongress gewählt. Von 1. bis 17. Oktober kann man sich in einem offenen Verfahren als Kandidat bewerben. Kern wird bereits von einigen Schwergewichten in der SPE informell unterstützt. Die Sozialdemokraten stecken in einigen EU-Ländern in einer schweren Krise. Die Europawahlen sollen auch dazu dienen, die Parteienfamilie zu erneuern.

Wahlkampfauftakt

Mit seiner Ankündigung, bei den EU-Wahlen im Mai 2019 als Spitzenkandidat auf der Liste seiner Partei anzutreten und sich ganz auf die Europapolitik zu konzentrieren, hat Kern nicht nur seine eigenen Genossen, die Regierungsparteien und die Medien überrascht. Der Ex-Bundeskanzler und Vorgänger von Sebastian Kurz hat auch den langsam beginnenden Europawahlkampf heftig befeuert.

Christian Kern bei einem EU-Gipfel in Brüssel 2017.
Foto: APA/AFP/JOHN THYS

Denn was auf den ersten Blick bescheiden klingt – Listenerster der SPÖ im Rennen um eines der nach dem Brexit 19 österreichischen von insgesamt 705 Mandaten im Europäischen Parlament –, hat ein starkes politisches Potenzial für höhere und höchste Aufgaben in der Union, die Kern in der EU übernehmen könnte. Seit der informellen Einführung des Systems der "gemeinsamen Spitzenkandidaten" durch die europäischen Parteifamilien, dem Zusammenschluss nationaler Parteien, im Jahr 2014, wird bei EU-Wahlen nicht nur einfach über die Vergabe von EU-Mandaten entschieden. Damals obsiegte der Christdemokrat (EVP) Jean-Claude Juncker aus Luxemburg gegen den Sozialdemokraten (S&D) Martin Schulz aus Deutschland und wurde Kommissionschef.

Als solcher stellte er mit den Sozialdemokraten ein Regierungsprogramm zusammen, und EVP und S&D teilten auch die übrigen EU-Spitzenämter untereinander auf.

Schlüssel nach Wahlergebnis

Nicht viel anders dürfte das nach den Mai-Wahlen ablaufen, wobei diese beiden Volksparteien gemäß bisherigen Umfragen wohl nur mit den Liberalen eine "Regierungsmehrheit" zustande bringen dürften. Vom Wahlergebnis wird abhängen, nach welchem Schlüssel die Exekutivposten verteilt werden. 2019 wird nach der Parlamentswahl nicht nur ein neuer Kommissionspräsident gesucht und die gesamte EU-Kommission aus 28 Kommissaren erneuert. Auch für den Ständigen Ratspräsidenten Donald Tusk, EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini, EZB-Präsident Mario Draghi geht die Amtszeit zu Ende.

Kanzler Kurz über den angekündigten Abgang von SPÖ-Chef Kern: "Ich hatte immer, das wissen Sie, mit Christian Kern meine Differenzen, aber nichtsdestotrotz wünsche ich ihm für seinen weiteren persönlichen Lebensweg alles, alles Gute."

Sollten die Staats- und Regierungschefs mitspielen, hat der Spitzenkandidat der stimmenstärksten Parteifamilie (derzeit EVP) das Recht, als Kommissionschef eine Mehrheit im Parlament zu suchen. Vor zwei Wochen hat EVP-Fraktionschef Manfred Weber seine Spitzenkandidatur offiziell angemeldet.

An diesem Punkt wird die Sache für Kern interessant. Denn bei Europas Sozialdemokraten zeichnet sich bisher kein schlagkräftiger gemeinsamer Spitzenkandidat ab. Bisher hat sich nur der aus der Slowakei stammende Maroš Šefčovič beworben. Außenbeauftragte Federica Mogherini aus Italien will aufhören. Die roten EU-Kommissare Frans Timmermans aus den Niederlanden und Pierre Moscovici aus Frankreich würden zwar gerne antreten, aber ihre Parteien zu Hause sind nach Wahlniederlagen 2017 in Auflösung begriffen.

Ein Video-Rückblick auf Christian Kerns bisherige politische Laufbahn.
DER STANDARD

Damit könnte sich für den Österreicher Kern ein Fenster öffnen. Nicht ausgeschlossen, dass er beim Treffen der SP-Parteichefs am Rande des EU-Gipfels in Salzburg am Mittwoch ankündigt, dass er ins Rennen um die Juncker-Nachfolge gehen will. Expremiers werden stets hoch gehandelt. Gewinnt Weber mit der EVP die Wahl, wird er wohl an die Kommissionsspitze aufrücken. S&D könnte dann Anspruch auf die Posten von Tusk oder Mogherini erheben: für Kern. Pikant: Kurz müsste dem zustimmen. Denn es ist kaum denkbar, dass ein österreichischer Kanzler einen Österreicher in einem EU-Spitzenjob verhindert, auch wenn die zwei einander nicht sehr schätzen.

Am Mittwoch erklärte der Kanzler zu Kerns Abgang: "Sein Rücktritt ist zu akzeptieren." Und, ein wenig persönlicher: "Ich hatte immer, das wissen Sie, mit Christian Kern meine Differenzen, aber nichtsdestotrotz wünsche ich ihm für seinen weiteren persönlichen Lebensweg alles, alles Gute."

Die Frage nach einer etwaigen Unterstützung Kerns auf EU-Ebene stelle sich nicht, erklärte Kurz. Er verwies darauf, dass die Wahl zum Europaparlament und die Entscheidung, wer Österreichs EU-Kommissar werde, auseinanderzuhalten seien. Der Kommissionspräsident werde von der stärksten Fraktion gestellt, und Kurz geht nicht davon aus, dass es sich dabei um die Sozialdemokraten handeln wird. Aus ÖVP-Kreisen hieß es zur APA, dass es für Kern keine Unterstützung geben wird. (Thomas Mayer, 18.9.2018)