"In diesem Haus wohnte und arbeitete der sowjetische Flugzeugkonstrukteur und Held der sozialistischen Arbeit Artjom Iwanowitsch Mikojan"; "... der Schriftsteller Alexander Serafimowitsch Serafimowitsch"; "... die Heldin der sozialistischen Arbeit Lidija Aleksandrowna Fotijewa"; "... der sowjetische Feldmarschall Jakow Nikolajewitsch Fedorenko"; "... das Mitglied des Obersten Sowjet Klawdija Iwanowna Nikolajewa ..."

Die im Dunkeln sieht man nicht: Gedenktafeln an den Wänden des Hauses an der Moskwa erinnern an berühmte Bewohner, die eines friedlichen Todes gestorben sind.
Foto: Michael Freund

Und viele andere mehr. An den Hauswänden eines riesigen Wohnblocks mitten in Moskau, an der Moskwa gegenüber dem Kreml, erinnern Granittafeln an illustre Bewohner. Moskowiten braucht man die Adresse nicht zu nennen, jeder kennt "das Haus am Flussufer". Es ist berühmt. Und es ist berüchtigt. Denn – was an den Hauswänden nicht zu lesen ist – zahllose Mitglieder der politischen, militärischen und kulturellen Eliten des Landes wurden hier in den späten 1930er-Jahren nächtens von der Geheimpolizei NKWD abgeholt und kehrten nicht wieder zurück – mehr als 800 der damals rund 2.700 Bewohner. Fast die Hälfte von ihnen wurde erschossen, der Rest eingesperrt oder verbannt. Nirgendwo in der Sowjetunion war man während der "Säuberungen" gefährdeter als hier, in Sichtweite Stalins. Das Haus, dessen Bau der Diktator verfügt hatte, wurde zur Falle für viele, die es bewohnten.

Juri Trifonow war elf Jahre alt, als sein Vater 1937 verhaftet wurde, ein Jahr später holte das NKWD seine Mutter ab, die er immerhin wiedersehen sollte, wenn auch erst nach acht Jahren. Die Erinnerungen an den "riesigen grauen Block mit Tausenden von Fenstern" verarbeitete er in dem Roman Das Haus an der Moskwa (1976, auf Deutsch 1977). Auch Karl Schlögel beschrieb in seiner großen Studie über Moskau 1937 das "Elitenquartier par excellence", in dem "der Terror der Jahre 1937/38 besonders wütete".

Eine Saga des Bolschewismus

Und nun hat der 1956 in Moskau geborene, an der UC Berkeley lehrende Historiker Yuri Slezkine ein monumentales Werk vorgelegt, Das Haus der Regierung, das die Geschichte des Baus in eine "Saga des Bolschewismus" einbettet: das Gebäude als Brennglas, in dem sich die Hoffnungen und Verzweiflungen einer für die ganze Welt geplanten Revolution konzentrieren und brechen.

In Sichtweite des Kreml: Direkt gegenüber der Arbeitsresidenz Wladimir Putins liegt das Regierungsgebäude, das Stalin für die politischen, militärischen und kulturellen Eliten des Landes erbauen ließ.
Foto: Michael Freund

Slezkine teilt das umfassende Thema in drei Teile, "Bücher", auf. Im ersten stellt er die frühe Garde des Bolschewismus vor, junge Sozialrevolutionäre, die bereits lange vor 1917 in Cafés, Seminaren oder in der Verbannung über die philosophischen Fundamente einer neuen Zeit diskutierten. Er begleitet sie auf dem Weg zur Macht, vom St. Petersburger Winterpalais bis zum Kreml, und in die Enttäuschung darüber, dass die große Umwälzung im Wesentlichen auf die Sowjetunion beschränkt blieb.

Buch zwei beschreibt, wie sich die Nomenklatura im "Sozialismus in einem Land" einrichtete, bildlich und im neu gebauten Haus auch wörtlich. Während Zwang und unrealistische Pläne zu Misserfolgen und zu genozidalen Hungersnöten vor allem in der Ukraine und in Kasachstan führten, arbeiteten die Planer in bürgerlichem Luxus mitsamt Sportanlagen und einem, wie man heute sagen würde, Concierge-Service, von dem einfache Genossen nur träumen konnten.

Angst in der exklusiven Idylle

Im dritten Teil dokumentiert Slezkine, wie Stalins Großer Terror das Haus der Regierung erreichte. In der exklusiven Idylle herrschten plötzlich Misstrauen, Angst – und Schweigen. Alle bangten, sie könnten die Nächsten sein. Was sie hofften und fürchteten, wie sie zwischen Zweifel, Zynismus und Glauben an die Weisheit der Partei schwankten, das vertrauten sie Tagebüchern und Briefen an. Slezkine gibt sie minutiös wieder, ebenso wie die Schicksale der in den Schauprozessen Verurteilten.

In Sichtweite des Hauses am Flussufer: Der Kreml und die Große Steinbrücke gehören zum Stadtpanorama aus dem sechsten Stock.
Foto: Michael Freund

Am Ende des Terrors wurden die prominentesten Henker Stalins – einige waren selber Bewohner des Hauses – als unerwünschte Zeugen ebenfalls liquidiert. Chruschtschow, der damals auf Stalins Seite stand und der dann in seiner berühmten Rede drei Jahre nach Stalins Tod dessen Verbrechen anprangern sollte, wohnte übrigens auch im Haus am Flussufer, in den Wohnungen 199 und 206. (Es wurde viel umgezogen und neu bezogen, wie Slezkine schreibt, wegen Beförderungen oder Degradierungen; oder wegen plötzlicher Abwesenheit.)

Über die Russische Revolution und ihre Folgen haben natürlich viele Historiker, Politiker und Journalisten publiziert, sie haben Panoramen geschildert oder Einzelschicksale, Erlebtes oder in Dokumenten Nachzulesendes. Slezkine zeichnet aus, dass er, im Sinne der neuen Geschichtsschreibung, unterschiedliche Zugänge vereint – hierin Karl Schlögel ähnlich – und sie ergänzt. Zum einen schreibt er eine "Familiensaga", wie er sie selbst nennt. Wobei die eher von Clans handelt und von deren Entouragen, davon, was aus der ursprünglichen Brüderschaft der Revolutionäre (mit nur wenigen Schwestern) wurde, als das Haus sie vereinnahmte.

Das Unausweichliche kommt nie

Über diese zahlreichen und sehr detailfreudigen Schilderungen legt er einen analytischen Rahmen, mit dem das Buch überhaupt beginnt. Er stellt die Frage, ob man den "leuchtenden Glauben" an den Kommunismus, an den Marxismus als Religion bezeichnen kann. In einem brillanten Kapitel analysiert er das Wesen von Religionen und kommt zu dem Schluss, dass die Bolschewiken eine millenaristische Sekte waren, die das Ende der gegenwärtigen Welt und ein irdisches Paradies noch zu Lebzeiten erwartete. Ihr Scheitern verlangte nach Schuldigen und darzubringenden Opfern – was sie zunächst erreicht hatten, war im tragischen Sinne nicht nachhaltig.

Alle derartigen Sekten, schreibt Slezkine in der für das ganze Buch typischen Sprache, oszillierend zwischen Präzision, literarischer Freiheit und einem Hauch von Sarkasmus, "haben eines gemeinsam: Das Unausweichliche kommt nie. Die Welt endet nicht; der blaue Vogel kehrt nie zurück; die Liebe offenbart sich nicht in ihrer ganzen innigen Zärtlichkeit und wohlmeinenden Gesinnung; und Tod und Trauer und Weinen und Schmerz verschwinden nicht einfach. Bis heute hat sich keine der millenaristischen Prophezeiungen erfüllt."

Erinnern und Leben sind untrennbar verbunden: In einer zum Museum gewordenen kleinen Wohnung im Haus am Flussufer hält Olga Trifonowa, die Witwe des Autors Juri Trifonow, das Gedächtnis an alles Geschehene lebendig.
Foto: Michael Freund

Hoffnungen und Enttäuschungen spiegelten sich in der zeitgenössischen Literatur wider. Diesem "Strang" widmet Slezkine ein besonderes Augenmerk, er listet zudem auf, welche Bücher und Theaterstücke zum Kanon in den Haushalten am Flussufer gehörten (Goethe und Flaubert etwa; Tolstoi sowieso – mit dessen epischem Gestus wurde Slezkines Buch zu Recht verglichen). Dabei kommt er zu dem erstaunlichen Schluss, dass das Festhalten an – bzw. die Rückkehr zu – klassischer Literatur symptomatisch gewesen sei für den Misserfolg des realen Sozialismus. Die bürgerlichen Wertvorstellungen seien maßgeblich gewesen für die Erben im Haus der Regierung. Die Regierenden hätten das Familienleben dort und anderswo nicht unter ihre Kontrolle gebracht.

Man mag dieser Schlussfolgerung mit Skepsis begegnen und auf andere, außenpolitische und wirtschaftliche Umstände verweisen (die Slezkine kaum berücksichtigt), welche zum Niedergang des Bolschewismus beigetragen haben. Eine ebenso faszinierende wie fordernde Lektüre bleibt das Buch in jedem Fall.

Das Haus selbst hat alles überlebt, es steht wie gesagt noch an derselben Stelle. Es wohnen noch manche Nachfahren der Nomenklatura dort. Viele Wohnungen sind vermietet, es herrschen keine privilegierten Macht-, sondern normale Marktverhältnisse. Ein riesiger Mercedes-Stern auf dem Dach musste allerdings auf Geheiß des gegenüber residierenden Putin abmontiert werden.

Im Epilog gibt Slezkine dem Schriftsteller Trifonow, den das Haus an der Moskwa geprägt hat, das letzte Wort. "Muss man sich erinnern?", zitiert er den Erzähler aus dessen letztem Roman Zeit und Ort. "Du lieber Gott, ebenso dumm ist die Frage: Muss man leben? Denn Erinnern und Leben sind untrennbar verbunden, und beide zusammen bilden einen Begriff, für den es keinen Namen gibt."

Trifonows Witwe Olga hält in einer kleinen ebenerdigen früheren Wohnung das Gedächtnis an alles Geschehene lebendig: das Museum des Hauses.

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Vom Recht des Stärkeren

Wie bezieht sich die Russische Föderation heute auf ihre eigene Vergangenheit? Spätestens seit den kaum gefeierten Oktoberrevolutionsfeiern vergangenes Jahr weiß man, dass der KGB-Mann an der Spitze zwar den Niedergang der Sowjetunion, in der seine Karriere begonnen hat, bedauert, dass er aber ihre revolutionären Wurzeln ablehnt – aus gutem Grund, waren sie doch gegen eine autoritäre Herrschaft gerichtet.

In seinem neuen Buch stellt der amerikanische Historiker Timothy Snyder die Politik Putins und die Erzählungen von der Größe Russlands in einen globalen politischen Zusammenhang. Der Weg in die Unfreiheit liest sich über Strecken wie ein Handbuch. Es hilft verstehen, wie und warum wir diesen Weg gehen, welche Formen Cyberkriege annehmen und wie etwa der Wahlsieg Trumps mit der Zuneigung der FPÖ zum Kreml zusammenhängt. Der Titel des Buches ist zugleich Feststellung und Warnung, eine pessimistische Diagnose, gefolgt von einem sehr vorsichtigen Rezept.

Vor einem Jahrhundert entwickelte Iwan Iljin, ein russischer Philosoph im Exil, eine faschistische Ideologie von einem gottgesandten Führer, vom Recht des Stärkeren und einem christlich-autoritären ewigen Russland. Snyder, der sich schon länger mit den Schriften des rechtsextremen Aristokraten beschäftigt, weist nach, in welch hohem Ausmaß die Ideen des lange Zeit vergessenen Iljin unter Putin hoffähig geworden sind, ebenso wie die seiner geistigen Nachfolger Alexander Dugin und Alexander Prochanow. Sie begleiten als wirkmächtige Ideen eine "Politik der Ewigkeit". Damit bezeichnet Snyder ein Herrschaftssystem, das keine Perspektiven bietet, sondern einen Kreislauf der Krisen: Man ist immer von Feinden umgeben, die es zu besiegen gilt.

Im Westen hingegen habe sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, also dem angeblichen Ende der Geschichte, eine "Politik der Unausweichlichkeit" etabliert. Die Natur, dachte man, bringe Märkte hervor und der Markt den Rechtsstaat. Eine geschichtsvergessene Bevölkerung konnte sich die Zukunft nur mehr als Fortsetzung der Gegenwart vorstellen, in der Hoffnung, die Zeiten würden immer besser werden.

Die Fiktion "Trump, erfolgreicher Geschäftsmann"

Werden sie allerdings nicht, wie Snyder konstatiert. Im Gegenteil, soziale Ungleichheiten nehmen zu und machen westliche Gesellschaften für autoritäre Führer und eine Ewigkeitspolitik anfällig, wie die US-Wahlen gezeigt haben. Der Mann an der Spitze der Regierung ist für Snyder keine reale Person, sondern die Fiktion "Donald Trump, erfolgreicher Geschäftsmann", eine Fantasie, die entstand, als "zügelloser Kapitalismus (...) auf kleptokratischen Autoritarismus" stieß. Für ihn ist erwiesen, dass der US-Präsident eine Marionette im Spiel des Kremls ist – er weist etwa auf die Schulden Trumps und die gleichzeitigen enormen Investitionen russischer Oligarchen und Gangster in dessen Immobilien hin.

Bild nicht mehr verfügbar.

Das Haus der vielen Briefkästen: Im Trump Tower an der Fifth Avenue gehören etliche Wohnungen anonymen Unternehmen und Personen mit Verbindungen zu Russland.
Foto: AP/Mark Lennihan

Cyberattacken würden der russischen Führung zudem helfen, den Westen und insbesondere Europa zu destabilisieren, um ein in Iljins Sinne imperiales, christliches Eurasien zu ermöglichen, "von Lissabon bis Wladiwostok", wie Snyder einen Text von Putin aus dem Jahr 2012 zitiert. Die Destabilisierung habe dank gezielter Unterstützungen rechtspopulistischer Kräfte durch Moskau auch Österreich erreicht, wie Snyder festhält: "Eine extrem rechte Partei, die in aller Offenheit eine Partnerschaft mit Moskau eingegangen war, war nun (2017) an der Regierung eines EU-Mitgliedsstaats beteiligt."

Vereinigte Oligarchen in Ost und West

Die Folgerungen, die Snyder aus vielen weiteren Fallstudien zieht (Krim etwa oder die Ostukraine – er wollte sich in seinem Buch ursprünglich auf den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine konzentrieren, in Fortführung seiner epochalen Werke Bloodlands und Black Earth, doch die globalen politischen Zuspitzungen der letzten Jahre überholten ihn sozusagen), diese Folgerungen geben wenig Anlass zu Optimismus. "Amerikanische und russische Oligarchen haben sehr viel mehr Gemeinsamkeiten untereinander als mit dem Rest der Bevölkerung des eigenen Landes." Was rät der Historiker dennoch? Den Weg in die Unfreiheit zu verlassen und mit einer "Politik der Verantwortlichkeit" zu beginnen. Wir können zu "Schöpfern einer Erneuerung (werden), die niemand voraussehen kann".

Das sind sehr schwache Hoffnungen, verständlich vielleicht angesichts der enormen gegenwärtigen Probleme. Dem Buch wäre noch vorzuhalten, dass es die aggressive Rolle des Westens gegenüber Russland zu gering gewichtet, ebenso die Interventionen des Westens, Cyber oder nicht, in unliebsame Wahlen, eine gute alte amerikanische Tradition. Das stimmt wohl, ist aber auch ein Beispiel für "Whataboutism", für Ablenken durch Hinweise auf andere Probleme. Nicht Russia-Bashing ist Snyders Absicht, sondern aufzuzeigen, wo die Fronten zwischen emanzipatorischen und reaktionären bis faschistischen Kräften laufen – auch innerhalb der USA, auch bei uns zu Hause.

Es ist im Übrigen ein schöner Zufall, dass die deutschen Ausgaben der Bücher von Slezkine und Snyder gleichzeitig erscheinen. Man kann sie sozusagen Rücken an Rücken lesen, als Darstellungen verschiedener politischer Dimensionen und Ideengeschichten (in Russland auch über Jahrzehnte parallel laufend, ohne einander zu berühren: Lenin und Stalin vs. Iljin). Sie ergänzen einander zu einem beeindruckenden Panorama. Wie es einmal ein Politiker mit Recht gefordert hat: Lernen wir Geschichte! (Michael Freund, 23.9.2018)