Der Urbanist und Philosoph Paul Virilio ist 86-jährig gestorben.

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Er war einer der Architekten der bunkerartigen Kirche Sainte-Bernadette in Nevers, der Alan Resnais in Hiroshima mon amour ein filmisches Denkmal setzte. Und er war der Schöpfer der Kirchenfenster für Le Corbusiers Kapelle Notre Dame du Haut in Ronchamp. Bekannt aber wurde der Urbanist und Philosoph Paul Virilio vor allem, indem er den Geschwindigkeitswahn der modernen Gesellschaft in einprägsame, heute würde man sagen "knackige" Formeln wie Rasender Stillstand goss.

Kind des totalen Krieges

1932 in Paris als Sohn eines italienischen Kommunisten und einer Bretonin geboren, erlebte Virilio die Besetzung der französischen Kapitale durch die Nationalsozialisten und später die Bombardierung der Stadt Nantes durch die Alliierten. Beides, vor allem aber die "Ästhetik des Verschwindens" einer Stadt, habe ihren Vater stark geprägt, sagte Virilios Tochter später. In der Tat bezeichnete sich der bekennende intellektuelle Autodidakt, der eine Lehre zum Glasmaler absolvierte, zeitlebens als einen, dessen Universität der Krieg gewesen sei.

1968 wurde Virilio, der sich ohne Diplom selbst zum Architekten erklärt hatte, von rebellierenden Studierenden zum Professor an der privaten Pariser "École Spéciale d‘Architecture" gewählt, der er bis zu seiner Emeritierung 1998 als Direktor verbunden blieb.

Fahren, fahren, fahren

Gleichsam nebenbei erschrieb er sich als Gründer eines Zentrums für strategische Studien und Friedensforschung sowie als Kritiker eines inneren und äußeren Mobilitätszwanges, einen weit über die Grenzen Frankreichs reichenden Ruf. "Die Geschwindigkeit ruft die Leere hervor, die Leere treibt zur Eile" schrieb Virilio beispielsweise in Fahren, fahren, fahren (1980). Weitere wesentliche Elemente seines Denkes, das einen Nerv der Zeit traf – und trifft – umriss Virilio in Essays wie Geschwindigkeit und Politik (1980) oder Rasender Stillstand (1992). Wobei er sich in Werken wie Krieg und Fernsehen (1993) unter dem Motto "Information ist eine Bombe" kritisch mit Massenmedien und sogenannter Echtzeitberichterstattung auseinandersetzte.

Die immerwährende Beschleunigung, getragen von technischen Entwicklungen wie schnelleren Verkehrsmitteln und Computern sowie neuen Kommunikationstechnologien legte der Geschwindigkeitsphilosoph dabei stets auf Probleme wie die Finanz- und Demokratiekrise und die Deregulierung der Arbeitswelt um.

In den letzten Jahren wurde Virilio als Entschleunigungsprediger verharmlost und weniger als Diagnostiker wahrgenommen. Das ließ ihn weder verstummen noch vollends verzweifeln. 2012 sorgte er – einmal noch – mit seinem Essay Der große Beschleuniger für Aufsehen. Er forderte darin ein "Ministerium der Zeit", das der Allgegenwart eines Cybertotalitarismus und dem real time trading an den Börsen gefälligst einen Riegel vorschieben solle.

Paul Virilio ist, wie erst jetzt bekannt wurde, am 10. September in Paris verstorben. Er wurde am Dienstag im engsten Familienkreis beigesetzt. (Stefan Gmünder, 19.9.2018)