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Die Art, sich mit interessanten Dingen zu beschäftigen, sei es das Lesen eines Buchs, das Erarbeiten von Zaubertricks, das geduldige Aufbauen von aufwendigen Bauwerken, das selbstständige Filmen und Bearbeiten von Videos und vieles mehr, all das endet nicht nach einer definierten Zeitspanne von 45 Minuten.

Foto: ap/Jessica Hill

"Nana, Nana!" Rosa, gerade ein Jahr alt geworden, deutet auf ihre Mutter und wiederholt freudestrahlend: "Nana!" Vater und Mutter können es nicht fassen. Das erste Mal benennt Rosa einen Elternteil. Leider fehlerhaft. Während die Mutter lächelt und meint: "Gut gemacht, Rosa", ist der Vater nicht so nachgiebig: "Mama, es heißt Mama!" Er sorgt sich um die Zukunft seiner Tochter und überlegt, welcher Schulnote dieser erste Versuch entsprechen würde. Befriedigend oder doch nur Genügend?

Irgendwie lernen alle Kinder zu sprechen, ohne gezielten Unterricht zu bekommen. Und irgendwie lernen sie zu stehen, zu gehen, zu laufen und vieles mehr. Und das alles, bevor sie in eine sogenannte Bildungseinrichtung kommen. Seit Emmi Pikler (1902–1984), Autorin des Buchs "Friedliche Babys – zufriedene Mütter", wissen wir, dass die Bewegungsentwicklung durch den Eingriff wohlmeinender Erwachsener eher gestört als gefördert wird. Ähnliches gilt wohl für die kognitive Entwicklung. Wissenschafter wie der Entwicklungspsychologe Peter Gray oder der Bildungsforscher Alan Thomas haben sich jahrelang mit dem Thema informelles Lernen beschäftigt. Thomas etwa sagt: "Bei der Untersuchung des informellen Lernens liegen vermutlich sowohl die größte Faszination als auch die größte Schwierigkeit darin, seine vollkommene Alltäglichkeit zu verstehen. Informelles Lernen bleibt – so wie in den ersten Lebensjahren – eine banale, alltägliche, unauffällige und dennoch erstaunlich effiziente Art zu lernen."

Gray und Thomas haben Glück: Sie leben in Ländern, in denen Bildung außerhalb der Schule nicht nur erlaubt, sondern auch relativ "normal" ist und teilweise sogar finanziell gefördert wird. In diesen Ländern – USA, Kanada, Australien, Großbritannien – gibt es schon jahrzehntelange Erfahrungen mit jungen Menschen, die nicht zur Schule gehen. Manche von ihnen werden daheim unterrichtet, man spricht von "Homeschooling", manche setzen ihre von früher Kindheit an gewohnte und bewährte Art zu lernen auch im "Schulalter" fort, sogenannte "Unschooler". Letztere werden also weder in der Schule noch daheim unterrichtet – und bilden sich dennoch.

Gehirnforschung liefert Erklärungen

Aber wie kann das sein? Sind junge Menschen nicht wie Gefäße, die mit Wissen befüllt werden müssen? Warum soll etwas quasi wie von selbst gehen, was wir in meist mühevoller Arbeit, mit viel Disziplin und oft unter Tränen eingetrichtert bekommen haben? Eine Antwort liefert uns die Gehirnforschung. Der Neurobiologe Gerald Hüther drückt es folgendermaßen aus:

"Jede neue Entdeckung, jede neue Erkenntnis und jede neue Fähigkeit lösen im Gehirn von Kindern einen für uns Erwachsene kaum noch nachvollziehbaren Sturm der Begeisterung aus. Diese Begeisterung über sich selbst und über all das, was es noch zu entdecken gibt, ist der wichtigste Treibstoff für die weitere Entwicklung des Gehirns. Sicher gebundene Kinder erleben jeden Tag ganze Serien solcher Begeisterungsstürme. Sie sind hingerissen von neuen Erlebnissen und überwältigt von dem, was ihnen mit jedem Tag besser gelingt. Wenn ihnen eine Entdeckung unter die Haut geht, werden die emotionalen Zentren im Mittelhirn aktiviert. Dann setzen diese Zellgruppen vermehrt neuroplastische Botenstoffe frei. Sie wirken wie Dünger auf die in diesem Zustand der Begeisterung aktivierten neuronalen Netzwerke. Sie bringen die Nervenzellen dazu, all jene Eiweiße vermehrt herzustellen, die für das Auswachsen neuer Fortsätze und für die Neubildung und Stabilisierung von Nervenzellkontakten gebraucht werden. Deshalb lernt jedes Kind all das besonders gut, was Begeisterung in ihm auslöst. Und Begeisterung entsteht nur, wenn etwas wichtig ist für das Kind."

Als Vater eines seit fast zwölf Jahren freilernenden Sohnes kann ich das vollinhaltlich bestätigen. Diese Begeisterungsstürme kann man wirklich sehen, hören und fühlen! Die Art, sich mit interessanten Dingen zu beschäftigen, sei es das Lesen eines Buchs, das Erarbeiten von Zaubertricks, das geduldige Aufbauen von aufwendigen Bauwerken, das selbstständige Filmen und Bearbeiten von Videos und vieles mehr, all das endet nicht nach einer definierten Zeitspanne von 45 Minuten. All das wäre nicht halb so viel wert, wenn man es bewerten und benoten würde. Ja, ich gehe sogar so weit zu sagen, dass die Begeisterung durch Bewertung und Benotung abnehmen und irgendwann versiegen würde. Lernen ist individuell und doch universell, ein Prozess, den man nicht standardisieren kann. Es ist ein Spiel, das Ernst ist.

Andere wissenschaftliche Hinweise

Aber was kann aus Kindern werden, die so aufwachsen? Werden sie sich im Berufsleben etablieren können? Wie sieht es mit ihrer sozialen Kompetenz aus? Sie brauchen doch Gruppen von Gleichaltrigen, um das richtige Sozialverhalten zu erlernen.

Diese Fragen hat sich so mancher Forscher auch schon gestellt. Die Ergebnisse dieser Studien sind für Skeptiker wohl überraschend: Erwachsene Freilerner und Homeschooler, die in den meisten Untersuchungen zusammengefasst werden, schneiden bei Vergleichstests meist gleich gut oder besser ab als Schulabgänger. Sie sind überwiegend glückliche und beruflich erfolgreiche Menschen geworden. Besonders die Ergebnisse im sozialen Bereich sind besser als bei in Schulen sozialisierten Menschen. Ehemalige Freilerner oder Homeschooler sind überproportional oft ehrenamtlich tätig, gehen häufiger zu Wahlen und sind auch politisch aktiver. Wer das nicht glaubt und das Gegenteil behauptet, so wie mancher "Experte" in Österreich, der sollte sich doch einmal wissenschaftlich mit diesen Fragen beschäftigen anstatt nur Meinungen kundzutun.

Motive sind vielfältig

Statt engagierte Eltern in ein esoterisches oder gar staatsfeindliches Eck zu stellen, sollte es für Journalisten selbstverständlich sein, sich für die Motive für diese Art von Bildung zu interessieren. Es handelt sich um keine Ideologie und keine Methode, sondern um die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse, die das bestätigen, was für viele von uns selbstverständlich und ganz natürlich ist. Voraussetzung ist eine Haltung, die die Bedürfnisse und die Mitbestimmung der jungen Menschen ernst nimmt. Oft sind es die jungen Menschen selbst, die Nein zur Schule sagen. Gewalt, Mobbing, Über- oder Unterforderung, Persönlichkeitsmerkmale wie Hochsensibilität – die Gründe sind vielfältig.

Das "Netzwerk der Freilerner – Verein zur Förderung freier und selbstbestimmter Bildung" setzt sich seit Jahren für die freie Wahl des eigenen Bildungswegs ein. Wir sind nicht gegen Schule, sondern wollen eine Wahlfreiheit erreichen. Denn Vielfalt im Bildungswesen bedeutet Bereicherung für alle! So wie in allen demokratischen Organisationen herrscht auch bei uns Meinungsfreiheit und -vielfalt. Wir sind keine politische, religiöse oder sonstige Gesinnungsgemeinschaft. Uns verbindet die Überzeugung, dass Bildung ein selbstbestimmter, lebendiger Prozess ist, den man nicht in Lehrplänen und -Standards festlegen sollte. Wir sehen uns nicht als die besseren Lehrer, sondern als unterstützende Begleiter unserer Töchter und Söhne. Wir sorgen für einen geeigneten Rahmen für deren Bildung. Das wäre auch mein Ideal einer guten Schule: Der Rahmen wird zur Verfügung gestellt, das Bild malt der junge Mensch selbst. Und zwar aus eigenem Antrieb, freiwillig und ohne Bewertung.

Freilernen als Potenzial begreifen

Es wäre an der Zeit, das Freilernen als Potenzial zu betrachten und nicht als Problem. Warum können nicht Politik und Behörden Eltern auf diesem Weg unterstützen – so wie in Großbritannien –, anstatt sie zu ignorieren, zu bevormunden oder zu bekämpfen? Wäre nicht genau das der richtige Ansatz, um etwaigen Missbrauch zu verhindern? Was spricht dagegen, wissenschaftlich zu begleiten, wie sich Freilerner bilden? Wäre es denkbar, dass solche Studien wichtige Erkenntnisse für das Schulsystem liefern?

Peter Gray, der amerikanische Entwicklungspsychologe, sagt: "Was die Zukunft der Bildung angeht, bin ich optimistisch. Ich bin zuversichtlich, dass wir als Kultur wieder zu Sinnen kommen und unseren Kindern die Freiheit zurückgeben werden, die Kontrolle über ihr eigenes Lernen zu übernehmen, damit Lernen als integraler Bestandteil des Lebens wieder eine freudvolle, aufregende Angelegenheit wird, keine deprimierende und angstvolle Mühsal." (Harald Krisa, 24.9.2018)