"Es ist doch interessant, dass mit der Kategorisierung 'böse' immer nur die anderen gemeint sind", sagt die Kriminalpsychologin Julia Shaw.

Foto: Julia Shaw

Julia Shaw
Böse
Die Psychologie unserer Abgründe
Hanser, 2018
320 Seiten, 22,70 Euro

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STANDARD: Sie haben ein Buch mit dem Titel "Böse – Die Psychologie unserer Abgründe" geschrieben. Warum?

Julia Shaw: Weil jeder ein anderes Bild vom Bösen in seinem Kopf hat und ich im Rahmen einer Vorlesung zum Thema "criminal thought" gemerkt habe, wie sehr meine Studierenden dieses Thema beschäftigt hat. "Das ist Böse", das sagt sich so leicht. Ich denke aber, dass die Einteilung in gut und böse niemanden weiterbringt.

STANDARD: Inwiefern?

Shaw: Weil es eine zu simple Einteilung ist und niemandem gerecht wird. Jeder trägt Anteile von diesen beiden Polen in sich, das versuche ich in meinem Buch auch zu erklären. Das Grundproblem sehe ich in der Vereinfachung. Es gibt keinen nur guten oder ausschließlich bösen Menschen, die Wahrheit liegt wie so oft in der Mitte. Deshalb ist es mir auch ein wichtiges Anliegen, diese beiden Wörter zur Beurteilung eines Menschen im Prinzip erst gar nicht zu benutzen.

STANDARD: Aber Sie nehmen das Wort sogar auf Ihr Buchcover ...

Shaw: Das ist provokant gemeint. Weil ich sehe, wie schnell man das Wort "böse" benutzt. Ich befasse mich als Kriminalpsychologin theoretisch mit dem Phänomen des Bösen. Man problematisiert den Begriff "böse" viel zu wenig, genau das will ich aber erreichen.

STANDARD: Was gut und böse ist, wird maßgeblich von der Gesellschaft bestimmt, oder?

Shaw: Das würde ich nicht behaupten, denn der Gesetzgeber selbst verwendet die Begriffe nicht. Er gibt uns Regeln vor, an die wir uns halten, aber er sagt nicht, dass ein Straftäter böse ist.

STANDARD: Wo verorten Sie Moral?

Shaw: Moral wird sehr oft in einem philosophischen Kontext angesiedelt. Bei der Bewertung von gut und böse spielt aber natürlich auch die Religion eine maßgebliche Rolle. Mir geht es auch darum zu vermitteln, dass es sich dabei um soziale Konstrukte handelt, mit denen wir uns als Psychologen beschäftigen müssen. Fakt ist: Menschen machen schlechte Sachen, das ist nun einmal so. Es ist menschlich. Und es gibt immer tausende unterschiedliche Gründe dafür.

STANDARD: In ihrem Buch haben Sie ziemlich viel Böses versammelt. Sie erzählen von Hitler, den Nazis, psychisch kranken und psychisch gesunden Mördern, von Terroristen, aber auch von Kinderschändern.

Shaw: Mein Fokus ist immer der Blick einer Psychologin auf solche Phänomene. Ich habe mich im Rahmen meiner Doktorarbeit sehr intensiv mit den Schattierungen des Kriminellen beschäftigt und wollte Straftäter verstehen. Insofern bin ich empathisch gegenüber Menschen, die schlecht handeln, und möchte für mehr Verständnis werben. Das heißt aber nicht, dass schlechte Taten entschuldigt werden sollten.

STANDARD: Haben Sie Kontakt mit Menschen, die kriminell sind?

Shaw: Hatte ich, ja. Ich habe mich dann aber sehr bewusst gegen eine Karriere als Therapeutin entschieden. Mich interessiert eher die wissenschaftliche Aufarbeitung und psychologische Auseinandersetzung. Es ist doch interessant, dass mit der Kategorisierung "böse" immer nur die anderen gemeint sind. Es ist eine Art Abwehrmechanismus, eine Art Abgrenzung. Schon das allein verfälscht die Sicht. Es sollte jedem klar sein, wovon wir reden, wenn wir "böse" sagen. Niemand braucht sich auf der Seite der Guten zu wähnen, wir alle sind beides.

STANDARD: Die Welt ist ziemlich komplex, einfache Einteilungen geben eher Halt als individuelle Betrachtungen. Denken Sie das nicht?

Shaw: Doch, ich selbst brauche genau diesen Halt nicht und verwende das Wort "böse" als Beurteilung einfach nicht mehr. Das funktioniert problemlos, auch wenn es in Zeiten wie diesen, in denen sich die Welt mit großen Schritten verändert, leichter wäre, sich abzugrenzen gegenüber dem, was uns Angst macht, was uns bedroht. Ich möchte aufklären und verstehen, warum wir etwas als böse bezeichnen, und für einen Dialog werben. Davon würde ich gerne auch die Leser meines Buchs überzeugen. (Karin Pollack, 27.9.2018)