Farben und Freude: Henri Matisses "Die Codomas", eine Lithografie von 1947.

Foto: Succession H. Matisse, Bildrecht, Wien 2018

Gmünd – 1905 konnte dem 35-jährigen Anstifter des Fauvismus, Henri Matisse, keine Nase zu grün, keine Wange zu violett und kein Hals zu orange sein. So wenigstens empfand es die Öffentlichkeit. Zur allgemeinen Verblüffung erklärte der Künstler: "Ich träume von einer Kunst, die für jeden ein Beruhigungsmittel ist, eine Erholung für das Gehirn, so etwas wie ein guter Lehnstuhl." Ein Widerspruch, der sich in mehr als einem Jahrhundert etwas verflüchtigt hat. Die Farbwahl ließ sich Matisse sein ganzes Lebenswerk hindurch nicht von der Wirklichkeit diktieren.

Die Raffinesse und hochwertige Ästhetik, mit der diese erfolgte, überzeugt heute aber die Besucher in allen großen Museen der Welt; in den kleineren seltener, weil repräsentative Matisse-Ausstellungen nicht so einfach zu organisieren sind. Aber die engagierte Kärntner Kulturstadt Gmünd hat es vor allem dank der Bernard Jacobson Gallery in London in diesem Sommer geschafft.

Berauschend schöne Formfindungen

Nun würde der 1952 entstandene monumentale Scherenschnitt Der Papagei und die Meerjungfrau die Dimensionen des Gmünder Stadtturms überfordern. Andere Arbeiten, die Matisse in seinen letzten 17 Lebensjahren aus exakt nach seiner Vorstellung mit Deckfarben eingefärbtem Papier geschnitten hat, wie der berühmte Blaue Akt, haben ähnliche Dimensionen. Aber die berauschend schönen Formfindungen, die Farbenpracht und Lebensfreude vermitteln en miniature zum Glück auch die 20 Blätter des Künstlerbuchs Jazz. Dieses, eines der einflussreichsten Künstlerbücher der Moderne, das im September 1947 in einer Auflage von nur 270 Stück erschien, steht im Zentrum der Schau.

Der Titel Jazz beruhte auf einem Vorschlag des Verlegers von Matisse. Tatsächlich entstammt mehr als die Hälfte der Motive aus der vom Maler so geliebten Zirkuswelt. Wahrscheinlich ist es wirklich nicht so entscheidend, ob man im "Schwertschlucker" beim ersten Blick einen Soulsänger vermutet. Ohnehin spielen Arbeiten wie Der Albtraum des weißen Elefanten, Die Rutschbahn oder Das Begräbnis des Pierrot poetisch mit dem Rätselhaften.

Scherenschnitt keine Notlösung

Zwei weitere Stadtturm-Etagen verweisen eindrucksvoll auf das, was schon vor vier Jahren in der großen Schau der Tate Gallery überzeugend dargelegt worden ist, nämlich dass der Scherenschnitt für Matisse keine altersbedingte Notlösung war. Vielmehr hat er damit eine vollgültige Kunstform geschaffen, die in seinem frühen Grafikwerk bereits angelegt war.

In allen frühen Odalisken-Lithografien, am überzeugendsten vielleicht im Linolschnitt-Porträt einer jungen Frau mit gewelltem Haar, bestehend aus 18 geschwungenen Linien, glaubt man die Weiterentwicklung schon zu erahnen. Außerdem lief es ja auch geradezu auf die Arbeit mit der Schere hinaus, dass Gott sich bei der Erschaffung der Frau jeder Spitzfindigkeit enthalten hat. (Michael Cerha, 21.9.2018)