Es ist seit einigen Jahren bei vielen Menschen in Europa "in" geworden, die Europäische Union als eine schwache, entscheidungsunfähige und in manchen wichtigen politischen Fragen wie der Migration sogar als bürgerfeindliche Gemeinschaft zu beschrieben. Insbesondere die EU-skeptischen Rechtspopulisten befeuern diese Sicht der Dinge gerne.

Mit ihren einfachen Botschaften, man könne die komplexen Probleme in Umbruchzeiten von Globalisierung und Digitalisierung durch simple Rückkehr zu nationalstaatlichen Lösungen besser lösen als in einer solidarischen europäischen Gemeinschaft, feiern sie quer durch den Kontinent Erfolge. Das ist nicht nur in osteuropäischen Ländern so, wie manche im "Westen" gerne betonen. Auch in den EU-Gründungsländern, in Italien, Frankreich, zuletzt in Deutschland, sind antieuropäisch gesinnte Gruppen auf dem Vormarsch, kommen die traditionellen Parteien, die die Union seit dem Krieg aufbauten, weiter unter Druck.

Das war als Unterströmung beim informellen EU-Gipfel in Salzburg deutlich spürbar, bei dem es neben dem Thema Migration vor allem darum ging, wie man den EU-Austritt Großbritanniens ohne großen Schaden für beide Seiten über die Bühne bringt.

Dieser Brexit war nicht zuletzt das Ergebnis jahrelanger Attacken und Hetze von nationalistischen Politikern. Weil gemäßigte Parteien die Gefahr unterschätzten, weil das sogenannte "proeuropäische Lager" den Angriffen gegen die EU nicht mit aller Macht entgegentrat, steckt die Union derzeit in der größten Identitätskrise seit Jahrzehnten.

Wann kommt die Wende? Pessimisten glauben, dass der Zerfall der Union nicht mehr abzuwenden ist. In Salzburg gab es aber – wenngleich nur zart sichtbar – auch erste Signale in eine ganz andere Richtung. Nach jahrelangem Streit zeigt sich plötzlich die Bereitschaft, beim leidigen und fast unlösbar scheinenden Thema Migration konkrete Schritte zu einem gemeinsamen Vorgehen zu setzen. Sogar Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker meinte, er sei jetzt optimistischer als zuvor. Beim Brexit wird das Bild noch klarer. Wenn die Briten erst einmal ausgetreten sein werden, wird die verbleibende EU-27 weiter zusammenrücken, bei allen Widersprüchen, die es derzeit gibt.

Aus österreichischer Sicht brachten diese Gipfeltage sogar auf eine verblüffende und jedenfalls paradoxe Weise eine deutliche Europäisierung der innenpolitischen Szene und der Parteien.

Zum einen konnte man einen Bundeskanzler Sebastian Kurz von der ÖVP erleben, der alle Register zieht, um sich auf der großen EU-Bühne inmitten der Regierungschefs als überzeugter Proeuropäer zu präsentieren. Zum anderen nutzte sein Vorgänger Christian Kern den Event, um zu erklären, dass er als Spitzenkandidat der Euro-Sozialdemokraten nach den EU-Wahlen 2019 in der EU-Politik ganz vorne mitspielen möchte. Wann hat es ein solches klares Bekenntnis zweier österreichischer Spitzenpolitiker seit dem EU-Beitritt 1995 zuletzt gegeben?

Wer Kurz zwischen Angela Merkel und Emmanuel Macron, mit Donald Tusk und Juncker überglücklich strahlen sah, konnte fast vergessen, dass er mit den EU-Skeptikern der FPÖ – die sich mit Wonne an EU-Feinde wie Matteo Salvini und Marine Le Pen, die die offene Union schwächen wollen, schmiegt – in einer Koalition ist. Das sind keine ganz schlechten Zeichen, sie lassen in Österreich eine spannende Wahlauseinandersetzung erwarten.(Thomas Mayer, 20.9.2018)