Noch weiß die Besatzung des Rettungsschiffs nicht, wohin sie die elf Männer bringen soll, die sie am Donnerstagmorgen aus der libyschen Such- und Rettungszone gerettet hat. In der Nacht auf Freitag hatten die Rettungskoordinationsstellen in Malta und Italien abgesagt, den Einsatz zu übernehmen und somit einen sicheren Ort oder "place of safety" zur Verfügung zu stellen. Nur an einem solchen ist laut Seerecht eine Rettung auf dem Meer abgeschlossen.

Erst in einem sicheren Hafen kann die Aquarius die Seerettung abschließen. Bisher hat sich niemand bereiterklärt, die Geretteten aufzunehmen.
Foto: Bianca Blei

Malta hat per Mail die Verantwortung von sich gewiesen, da die Koordinationsstelle "weder die angebrachte noch die kompetente Behörde" bei dieser Rettung sei. Kurz vor Mitternacht erteilte auch die Stelle in Rom via Mail eine Absage: "(…) die italienische Behörde wird keinen sicheren Ort in Italien zur Verfügung stellen, da der Such- und Rettungseinsatz nicht durch die Italienische Maritime Rettungskoordinationsstelle koordiniert wurde." Libyen hatte sich gemeldet, um den Einsatz zu koordinieren, doch die Aquarius hat das Angebot abgelehnt, die Geretteten zu übergeben, da laut einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) Libyen nicht als sicherer Ort gilt.

Die Aquarius, die von den beiden Hilfsorganisationen SOS Méditerranée und Ärzte ohne Grenzen (MSF) betrieben wird, befindet sich weiterhin auf Patrouille rund 25 Seemeilen beziehungsweise 43 Kilometer vor der libyschen Küste. In einem nächsten Schritt wird die Crew die Einsatzzentralen in Spanien, Griechenland und Frankreich kontaktieren. Das war bereits im August der Fall, als nicht geklärt werden konnte, wohin 141 Gerettete gebracht werden sollen. Damals hat sich Malta – nach einer ersten Absage – dazu bereiterklärt, den Hafen in Valletta zu öffnen. Zuvor hatten fünf EU-Mitgliedstaaten zugesagt, die Geretteten aufzunehmen. Auf eine ähnliche Lösung hofft die Aquarius nun wieder.

Zwei Hauptmahlzeiten, Kuchen und Kekse

Die Geretteten an Bord werden indessen von der Crew versorgt. Am Morgen erklärte MSF-Logistiker Edouard Courcelle am Achterdeck die Handhabe der 24-Stunden-Nahrungspakete. In ihnen enthalten sind mitunter zwei Hauptmahlzeiten, die in Beuteln mit Wärmequellen erhitzt werden können, Kuchen und Kekse. Courcelle spricht Englisch vor den zehn Männern und dem Buben und bittet nach jedem Satz Ch. Amraiz, einen 38-jährigen Pakistani, zu übersetzen. Anschließend erklärt er die Handhabe noch einmal auf Französisch – für den jungen Mann aus der Elfenbeinküste, der sich ebenfalls in dem am Donnerstag aufgegriffenen Glasfaserboot befunden hatte.

Die Geretteten stammen mehrheitlich aus Pakistan. Eine Rückkehr in ihr Heimatland kann sich keiner von ihnen vorstellen.
Foto: Bianca Blei

Amraiz setzt sich danach auf einen Hocker zur Seite und beginnt in einfachem Englisch seine Geschichte zu erzählen. Er stamme aus Kaschmir, der Region Pakistans, die zwischen seinem Heimatland und Indien umkämpft ist. Er sei unverheiratet, für eine Hochzeit hätte seine Familie zu wenig Geld. Eigentlich wollte er nie nach Europa, erzählt Amraiz, sondern in Libyen arbeiten, um seiner Familie Geld zu schicken. Fast zwei Monate sei er im Land gewesen und habe einen Monat lang als Anstreicher gearbeitet. Doch sein Arbeitgeber habe ihn nicht bezahlt. Es sei ein Streit ausgebrochen, der Libyer habe ihm gedroht, ihn bei der Polizei anzuzeigen, wo seine Brüder arbeiten würden. Er habe Angst bekommen. Dann hatte sein Bruder die Idee mit der Überfahrt nach Europa. Nach Pakistan könne er nicht zurück. Er müsse doch Geld verdienen, sagt er.

4.000 Euro und ein Jobversprechen

Auch für den 32-jährigen Nazim aus dem pakistanischen Bundesstaat Punjab ist die Rückkehr keine Option. Er habe seine Heimat nach einem Streit mit seinem Bruder verlassen, der ihm sein Haus weggenommen habe – quasi als Ersatzzahlung für frühere Unterstützung. Daraufhin sei er mit seiner Frau und ihren beiden kleinen Söhnen in das Haus seiner Schwiegereltern gezogen. Nazim verkaufte sein einziges Stück Land und nahm sich bei den Eltern seiner Frau einen Kredit. Er wollte nach Libyen, um zu arbeiten. Umgerechnet 4.000 Euro habe er einem Agenten für die Reise und das Jobversprechen bezahlt, erzählt er. Eigentlich wollte er in den Oman oder nach Dubai, um Geld zu verdienen. Doch diese Staaten verlangen medizinische Untersuchungen für eine Arbeitserlaubnis, sagt Nazim. Aus gesundheitlichen Gründen sei er abgelehnt wurden, erzählt der 32-Jährige. In Libyen sei schließlich sein Lohn zum Teil einbehalten worden, und er selbst sei später in einem privaten Haus im Stall eingesperrt gewesen. Nach einigen Tagen mit nur wenig Nahrung und Wasser sei er an einen anderen Libyer übergeben worden. Warum, weiß er nicht. Ebenso wenig weiß er, warum ihn dieser auf das Boot gesetzt und unter Androhung von Gewalt aufs offene Meer gejagt hat.

Die Geretteten an Bord der Aquarius werden von der Crew versorgt.
Foto: Bianca Blei

Rückkehr ausgeschlossen

Die Familie des 32-Jährigen Muhammad weiß nicht, dass er sich auf die Reise nach Europa gemacht hat. Vor vier Monaten sei er gemeinsam mit seinem besten Freund aus Kindheitstagen aus dem Heimatdorf nahe der pakistanischen Hauptstadt Islamabad nach Libyen gegangen, um Geld zu verdienen. Doch in Tripolis sind sie in die Schusslinie der sich bekämpfenden Milizen gelangt. Sein Freund wurde erschossen. Muhammad klopft sich immer wieder auf den Kopf und auf die Brust. Er müsse sich nun um seine beiden Kinder und die Familie seines Freundes kümmern, sagt er verzweifelt. Eine Rückkehr nach Pakistan sei ausgeschlossen. Er müsse nach Europa, um zu arbeiten. "Es geht nicht um mein Leben, das ist schon vorbei", sagt Muhammad auf die Frage, warum er in das kleine Boot gestiegen sei: "Es geht um die Zukunft meiner Kinder."

Pakistaner als "goldene Kühe" bezeichnet

Pakistaner sind laut Seraina Eldada selten an Bord der Aquarius. Sie ist zuständig für die humanitäre Arbeit von MSF auf dem Schiff und führt unter anderem die Interviews mit den Geretteten. "Wie Menschen aus Bangladesch werden die Pakistaner in Libyen als 'goldene Kühe' bezeichnet", sagt Eldada: "Man weiß, dass man viel Geld aus ihnen herauspressen kann." Die meisten Geretteten würden angeben, dass sie bereits lange in Libyen arbeiten und eigentlich nie nach Europa wollten, aber durch die gefährliche Lage im Land keinen anderen Weg sehen würden, als über das Meer zu entkommen. "Es ist bekannt, dass der Zusammenhalt unter Pakistanern sehr groß ist", berichtet Eldada: "Foltert man einen, weinen alle, sagt man." Familien würden gezwungen werden, Geld nach Libyen zu schicken, um ihre eingesperrten Verwandten von der Folter freizukaufen.

Viele von ihnen würden aber auch unbezahlt arbeiten und keine Rechte am Arbeitsmarkt haben, sagt Eldada. Der Weg zurück nach Pakistan sei ihnen immer wieder versperrt, da sie keinen Reisepass mehr hätten. Es gebe außerdem laut Eldada Berichte, dass sich Männer in die Auffanglager Libyens begeben und angeben, von den jeweiligen Botschaften zu stammen. Unter Vorspiegelung der Hoffnung, die Landsleute zurück nach Hause zu bringen, würden die Betroffenen aber oft weiterverkauft, um Zwangsarbeit in Libyen zu verrichten. (Bianca Blei, 21.9.2018)