Intellektuelle versuchten, Orbán als ungarischen De Gaulle zu verkaufen.

Illustrationen von Felix Grütsch

Illustration: Felix Grütsch

Man nennt es "Storytelling": die Kunst, eine Marke oder eine Idee in eine schöne Geschichte zu verpacken. Die Werbungsleute haben sie erfunden, die "Spin Doctors" haben sie verfeinert – manchmal mit mäßigem Erfolg. Denn das Storytelling funktioniert besser, wenn es keine reine Inszenierung ist, wenn die Akteure einige Substanz haben.

Die Konfrontation zwischen Viktor Orbán und Emmanuel Macron ist schon seit einiger Zeit ein Thema in europäischen Gremien. Sie wird uns bestimmt bis zur Europawahl begleiten. Kein Zweifel, der ungarische Ministerpräsident und der französische Präsident verkörpern einen Wertekampf: identitärer Rückzug gegen Weltöffnung, Illiberalismus gegen Liberalismus, Misstrauen gegenüber einem supranationalen Europa versus Willen zur Vertiefung. Eine Dichotomie.

Doch in der Zeit "segmentierten" Publikums und alternativer Wahrheiten ist es sinnvoll, beide Opponenten im Licht von Archetypen zu analysieren, die seit 25 Jahrhunderten die westliche Psyche prägen: jenen der griechischen Antike. Auch wenn wir Ilias und Odyssee nur mehr dank Wikipedia kennen, sind diese Muster in uns tief verankert. Sie sind derart prägend, dass die Nazis in den Altgriechen nie ein mediterranes Volk sehen wollten, sondern eigentlich Germanen – ein ideologischer Hold-up.

Für die Beobachter der Debatte in Straßburg, wo am 11. September der Ungar ein negatives Votum des europäischen Parlaments einstecken musste: Orbán ist Ikarus, er konnte der Versuchung nicht widerstehen, der Sonne zu nahe zu kommen, allen Warnungen seines Vaters Dedalus trotzend, der ihm seine Flügel gebastelt hatte. Das Wachs zwischen den Federn ist geschmolzen, er stürzt ins Meer und ertrinkt. Ikarus ist den Weg der Transgression gegangen wie Orbán in Straßburg nach all den Jahren, in denen er darauf achtete, die rote Linie nicht zu überschreiten. Aber die rote Linie hat sich geändert, und sein arrogantes Grinsen hat beim Votum so schwer gewogen wie die Unruhen von Chemnitz oder die deutschen Ambitionen auf die EU-Kommission.

Aufstieg durch Transgression

Die Transgression kennt Orbán gut. Er verdankt ihr seinen Aufstieg: Seine Rede im Juni 1989 auf dem Heldenplatz in Budapest hat ihn ins europäische Spiel katapultiert. Fünf Monate vor dem Fall der Berliner Mauer verlangte er den Rückzug sowjetischer Truppen aus Ungarn. Der junge Orbán hat damals verstanden: Um politisch zu existieren, muss man eine Vision haben und sie mit aller Kraft verfolgen. Es ist eine wichtige Facette der Persönlichkeit Orbáns und das Storytelling seiner Propaganda.

Als ich ab 2010 für "Le Monde" wieder über Ungarn zu berichten hatte, war mir das Land nicht unbekannt (ich stand im Juni 1989 mit anderen Journalisten auf dem Heldenplatz). Fast im Wochentakt musste ich erzählen, wie die ungarische Regierung die Demokratie methodisch abmontierte. Mein Buch "Hongrie, l'apprentie sorcière du nationalisme" (Ungarn als Zauberlehrling des Nationalismus), 2012 erschienen, war davon eine kurze Zusammenfassung, die Situation ist seitdem nur schlimmer geworden.

Damals haben sich regierungsaffine ungarischen Intellektuelle stets bemüht, uns Franzosen Orbán als magyarische Reinkarnation von General Charles de Gaulle zu verkaufen. Der Held des Widerstands gegen Nazismus und Kollaboration erscheint freilich als ein Ikarus, der nicht scheitert. Immer wollte er abheben und sich der Sonne der Geschichte nähern. Hin und wieder hat er es geschafft.

Ich habe die Fabel von Orbán als gaullistische Figur nie gekauft. Der ungarische Premier wäre nichts mehr als ein Techniker der Macht, seufzten hingegen seine Kontrahenten. Es ist nicht ganz falsch: Orbán bleibt meistens ein Dedalus, ein schlauer Architekt. Außer wenn er dem transgressiven Ikarus freie Bahn gibt.

Jetzt steht ihm Jupiter im Weg. Jeder weiß, dass Emmanuel Macron sich auf den Donnergott beruft, die römische Version von Zeus, um seiner Funktion eine gewisse Vertikalität und Distanz wiederzugeben. Nicht zu viel! So flehen ihn derzeit seine Berater an (von den sinkenden Umfragen alarmiert): Es gibt nicht nur die erste Seilschaft, vergiss nicht auf die anderen. Mach mehr Soziales.

Gegenwinde, Fallen und Tücken

Doch erinnert Macron vor allem an Odysseus. Ein Mensch, der ein einfaches Ziel vor Augen hat: zu seinem Reich Ithaka zurückzusegeln. Es gibt Gegenwinde, Fallen und Tücken sind überall, die Reise dauert gut zehn Jahre. Odysseus hat im Krieg gekämpft, wie es sein sollte. Es ist vorbei. Er hat Achilles zurückgelassen, und unter den Mauern Trojas im Staub die blutige Leiche Hektors. Er hat die heroische Arena verlassen. Freilich kommt manchmal die Göttin Athena zu Hilfe, aber meistens vertraut er seiner erfinderischen List – die "metis" der Altgriechen. Im homerischen Gedicht ist er "Polytropos", der Mann der tausend Tricks. Er verliert alle seine Matrosen, baut sich aber in Ithaka hartnäckig ein Netzwerk wieder auf: mit seinen Schweinehirten, seiner alten Amme, seinem Sohn, seiner Frau. Er erobert sich mühsam seinen Platz zurück.

Europa, meint der Philosoph Peter Sloterdijk im Interview mit "Le Point", ist die Gemeinschaft der Staaten, die verstanden haben, dass sie nie mehr "der Schwerpunkt der Weltmacht" sein werden. Es ist ein gigantisches "Rehab Center", wo "500 Millionen Verlierer" lernen sollen, wie man "in einer postimperialen, postheroischen Welt" weiterlebt und sich wieder aufrichtet.

Wir alle empfinden eine Sehnsucht nach Achilles und Hektor. Odysseus zeigt einen anderen Weg: gegenseitige Hilfe, pragmatische Intelligenz, moralische Standhaftigkeit. Wertvolle Eigenschaften bei einem so unsicheren Ausgang der Reise für die Menschheit. Ikarus und Odysseus sind zwei Archetypen, zwischen denen jeder politische Mensch sich orientieren muss. Es sind auch zwei Phasen der europäischen Psyche. (Joëlle Stolz, 21.9.20108)