Eigentlich gekommen, um Kanzler zu bleiben. In der Opposition hielt es ihn nicht einmal ein Jahr. Jetzt will Christian Kern nach Europa. Wenn es nach ihm geht, als Kandidat der Euro-Sozialdemokraten.

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Die Rolle des Oppositionsführers, naja, die war nicht die seine. Im Gespräch mit dem Schriftsteller Michael Köhlmeier bekannte Christian Kern unlängst mit Galgenhumor: "Also, es ist irgendwie schwierig, dieses Geschäft." Wenige Tage später hatte der bisher kürzestdienende SPÖ-Chef fertiganalysiert – und die Konsequenzen gezogen. Er zieht weiter. Brüssel calling.

Dabei hatte alles so gut angefangen. Bis auf Doris Bures, die ihm noch während Werner Faymanns Kanzlerschaft das politische Geschäft nie zugetraut hat, hatten alle große Erwartungen. Endlich würden Wankelmut, Schnarrstimme und inhaltliche Leere der Vergangenheit angehören. Und der Hoffnungsträger schien diese Jobdescription gleich in seiner ersten Rede als SPÖ-Obmann mit Leben zu füllen.

Da stand mit dem Simmeringer Ex-Bahnchef im Mai 2016 plötzlich ein für den Kampf um sozialdemokratische Werte äußerst entschlossener Maßanzugträger vor den Genossen. Einer, der etwas umsetzen wollte. Und reden konnte er auch noch.

Der neue Star der Sozialdemokraten, der neue Kanzler im Regierungsteam mit der ÖVP, wählte offene Worte. "Zukunftsvergessen" und "machtbesessen" habe man bisher agiert, lautete sein Befund. Sich selbst bezeichnete er als "so was wie einen frischgebackenen Politiker". Das war maßlos untertrieben. Und doch richtig.

Plötzlich Parteichef

Überraschend kam jedenfalls nichts. Christian Kern wurde nicht plötzlich SPÖ-Vorsitzender. Er hat lange darauf hingearbeitet, galt seit Jahren als aussichtsreicher Kandidat für den Chefposten. Sein politisches Geschick konnte er bereits beim staatsnahen Bahnunternehmen ÖBB trainieren.

Was richtig ist: An taktischem Gespür für parteipolitische Manöver fehlte es dem Quereinsteiger. Weder erkannte er den rechten Zeitpunkt zum Absprung aus der Koalition, noch setzte er auf die richtigen Berater. Stichwort Tal Silberstein.

Doch zuvor war das Licht.

Jenes der Welt erblickt der Sohn einer Sekretärin und eines Elektroinstallateurs am 4. Jänner 1966. Politisch aktiv ist er, lässt man die Klassensprecherfunktion weg, seit den Tagen beim Verband Sozialistischer Studenten und dem Chefredakteursjob bei der "Rotpress", dem Blatt des VSStÖ. Nach einem Abstecher in den Journalismus (Wirtschaftspressedienst und Wirtschaftsmagazin "Option") heuert Kern als Assistent des damaligen Staatssekretärs und späteren Klubchefs Peter Kostelka an.

Auch privat ist Kern gefordert. Mit 22 Jahren wird er Vater des ersten von vier Kindern, zieht den Sohn anfangs allein auf. Beruflich folgt 1997 der Wechsel zum Stromriesen Verbund, zunächst als Vorstandsassistent, später als Vorstandsmitglied. Bereits damals habe Kern von seiner Bestimmung zum SPÖ-Chef gesprochen, berichten ehemalige Gefährten.

Aufputschmittel für SPÖ

Im Juni 2016 ist es so weit: Die Genossen wählen ihn mit 97 Prozent an die Spitze. Kern ist das Aufputschmittel für die verschlafene Partei. In Europa gilt er als untadeliger Politiker mit einem moderaten linksliberalen Profil, als Modernist, der auch von Liberalen und Christdemokraten ob seiner zurückhaltenden Pragmatik respektiert wird.

Daheim gibt er den souveränen Kanzler, auch mit der ÖVP glaubt er sich arrangiert zu haben. Deren damaliger Chef Reinhold Mitterlehner gilt ihm als verlässlicher Partner, mit dem er auch persönlich gut kann. Dass andere bereits an einer Zukunft ohne SPÖ arbeiten und an Mitterlehners Stuhl sägen, unterschätzt Kern.

Knapp nach seiner Kür zum SPÖ-Chef liegt der Neue in Umfragen noch ziemlich weit vorn, nur zwei Personen wird im Frühjahr 2016 mehr Vertrauen entgegen gebracht: Bundespräsident Heinz Fischer – und Sebastian Kurz.

Dann kam der Jänner 2017 und mit ihm der Plan A. Der wurde vom Koalitionspartner als Wahlkampfansage verstanden. Es folgt zwar eine Neudefinition des gemeinsamen Regierungsprogramms, doch es häufen sich die Alleingänge von Außenminister Kurz. Als Mitterlehner im Mai 2017 entnervt aufgibt, hat der Kanzler plötzlich ein knapp 30-jähriges Medientalent mit Lust auf Neuwahlen als Widersacher.

Plötzlich Prinzessin

Vom Boulevard wird Kern fallen gelassen. Die Umfragewerte purzeln. Kurz heißt der neue Messias. Die Veröffentlichung eines internen Analysepapiers, in dem Kern als sprunghaft, unsicher, eitel, als "Prinzessin" mit "Glaskinn" beschrieben wird, ist ein Tiefpunkt von vielen. Später werden die Geschäfte seiner zweiten Frau, der Unternehmerin Eveline Steinberger-Kern, skandalisiert.

Auch intern rumort es. Am Jahrestag der Parteiübernahme erklärt Kern im "ZiB 2"-Studio, er wolle noch vor der Wahl im Oktober bekanntgeben, ob die FPÖ als möglicher Koalitionspartner im sogenannten Kriterienkatalog Platz findet. Bloß hatte man in den Gremien eine Woche zuvor genau das Gegenteil vereinbart, ärgert sich ein Insider bis heute. Kerns Stärke liege im Analysieren, nur bei der Umsetzung nehme er die Leute nicht mit, erklärt ein anderer.

Hans Peter Doskozil, ein Erbstück aus den Tagen Faymanns, trägt seinen Unmut offen zur Schau. Knapp vor der Wahl demonstriert er im STANDARD-Interview mit ÖVP-Chef Kurz beim Migrationsthema traute Eintracht. Im selben Duktus geht es weiter. Erst vor wenigen Wochen nutzt Doskozil die Präsentation des neuen Parteiprogramms für Kritik an "grün-linker Fundipolitik". Dabei hatte Kern nur die Hitze des Sommers als Anlass genommen, um die Roten als Kämpfer gegen den Klimawandel zu positionieren. Aus Wien kam dazu Schweigen bis Häme.

Jetzt hat Kern Besseres vor. Bei der Debatte der Euro-Sozialdemokraten, wie man sich bei den kommenden Wahlen aufstellen soll, spielte Kern stets eine Verbinderrolle. Kein Zufall: In Österreich mag die SPÖ in der Krise stecken. Verglichen mit dem Zustand der Schwesternparteien im Rest der EU geht es ihnen mit Umfragewerten knapp unter 30 Prozent immer noch "Gold". Die EU-Wahl wird als echte Schicksalswahl für die Sozialdemokraten gesehen.

Krise als Chance

Die Misere der SPE ist also Kerns Chance. Aus österreichischer Perspektive mag er als gescheiterter Kanzler erscheinen. In Europa ist es jedoch völlig normal, dass frühere Regierungschefs sich später auf der europäischen Ebene etablieren.

Nicht zuletzt Kommissionschef Jean-Claude Juncker ist dafür ein gutes Beispiel: Er wurde im Juli 2014 in seinem Land von den anderen Parteien "gestürzt". Acht Monate später war er der gemeinsame Spitzenkandidat der EVP, von Kanzlerin Angela Merkel vorgeschlagen.

So könnte das nun auch bei Kern laufen. Am 8. Dezember soll der SPE-Spitzenkandidat in Lissabon gekürt werden. Die Bewerbungsfrist endet am 18. Oktober. Bisher hat sich nur der aus der Slowakei stammende EU-Kommissar für Energie, Maroš Šefčovič, als möglicher Kandidat angekündigt. Er soll bereits die Unterstützung vieler osteuropäischer Schwesternparteien haben. Genau das bereitet nicht wenigen SP-Chefs in den westeuropäischen Ländern eher Kopfzerbrechen.

Kopfzerbrechen

Šefčovič ist ein unscheinbarer Politiker mit wenig Profil, gelernter Diplomat, der seine Karriere noch in den "dunklen" Zeiten des Sowjetkommunismus gestartet hatte. Er wurde in Moskau als Diplomat ausgebildet.

Die slowakischen Sozialdemokraten gelten, nicht zuletzt durch die Skandale unter dem gescheiterten Premier Robert Fico, als diskreditiert. In einem EU-Wahlkampf mit dem Spitzenkandidaten Šefčovič, so steht die Befürchtung, würden diese Geschichten von Korruption und Altkommunisten von den politischen Gegnern genüsslich aufgewärmt und gegen die SPE verwendet werden.

Da die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini aus Italien ebenso wie der Niederländer Frans Timmermans, der Stellvertreter von Juncker in der Kommission, als mögliche Kandidaten abgewunken haben beziehungsweise kaum Unterstützung mehr finden, detto der aus Frankreich stammende EU-Währungskommissar Pierre Moscovici, sind die Chancen für den Österreicher zuletzt gestiegen.

Was ihm auch zugutekommen könnte: 2017 hat Kern den späteren französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron unterstützt. Zu Macron hat er bis heute Kontakt. Es fehlen nur noch sieben weitere Empfehlungen. (Thomas Mayer, Karin Riss, 21.9.2018)