Mit Sowjetpropaganda an den Wänden wird vieles möglich: Kabakows Installation "Der Mensch, der aus seinem Zimmer in den Kosmos flog".

Foto: Herwig Höller/MAK

Moskau – Vor mehr als drei Jahrzehnten hat Ilja Kabakow Moskau verlassen. In Gestalt seines künstlerischen Werks kehrte er vergangene Woche an seine frühere Wirkungsstätte zurück. Der 83-Jährige, international renommierte Künstler selbst, fehlte. Aus gesundheitlichen Gründen verlässt er seine Wahlheimat USA nicht mehr. Auch deshalb mutet die große Retrospektive "In die Zukunft werden nicht alle mitgenommen" wie ein Abschied an.

Die Neue Tretjakow-Galerie ist die letzte Station der Schau, die zuvor in der Tate Modern in London und der Petersburger Eremitage gastierte. Ihr Titel verweist auf eine Installation von 2001: Auf einem Bahnsteig verstreut liegen Gemälde – zurückgelassene Bilder.

Wird er Teil der Kunstgeschichte?

"In die Zukunft werden nicht alle mitgenommen" hieß bereits 1983 ein Text Kabakows, den er in der in Paris erscheinenden russischen Kunstzeitschrift "A-Ja" veröffentlichte. Darin verglich er den Avantgardisten Kasimir Malewitsch mit einem autoritären Schuldirektor, der nur die Besten in ein sommerliches Ferienlager mitnimmt. In dieser Kritik an Kunstinstitutionen und ihren willkürlichen Auswahlkriterien schwang seinerzeit Ironie mit. Nun ist es Kabakow bitterernst. "Seine größte Sorge ist: Wird er Teil der Kunstgeschichte?", so Gattin Emilia, seit Mitte der 1990er Ko-Autorin in einer neuen Künstlerdoku. Darin erklärt Kabakow auch seine Rückkehr zur Malerei, denn Installationen seien vergänglich.

Brotberuf Kinderbuchillustrator

Im Unterschied zu früheren Retrospektiven versucht die aktuelle Schau Kabakow noch einmal in der ganzen künstlerischen Breite zu präsentieren: Auf das Frühwerk der 1960er, das Querbezüge zu seinem Brotberuf als Kinderbuchillustrator nicht verhehlen kann, folgen in den 1970ern mit Texten ergänzte Grafiken und Gemälde, die sich oft mit dem verbürokratisierten Alltag des Sowjetbürgers beschäftigen. Bevor er Moskau endgültig den Rücken zukehrt, gewinnen Objekte an Bedeutung. In Kabakows Dachbodenatelier entsteht fast im Geheimen auch die erste raumfüllende "totale Installation", deren Rekonstruktion in der Ausstellung freilich nicht fehlen darf: In "Der Mensch, der aus seinem Zimmer in den Kosmos flog" (1985) baumelt ein primitiver Schleudersitz in einem mit propagandistischen Plakaten zugepflasterten Raum. Sein Bewohner scheint, das legt das Loch in der Decke nahe, noch oben gestartet zu sein.

Probleme mit dem KGB

In der Zeit der Perestrojka wuchs im Ausland das Interesse an Kabakow und am "Moskauer romantischen Konzeptualismus". In der Heimat verschaffte ihm seine Kunst Probleme mit dem KGB. Als Peter Pakesch ihn 1987 für ein Ausstellungsprojekt des Grazer Kunstvereins nach Österreich einlädt, ermöglicht er Kabakov damit eine unbürokratische Emigration. Obwohl der damals 54-Jährige als Mitglied des Künstlerverbandes und gut verdienender Buchillustrator formal bestens in das staatliche Kunstsystem integriert war, hatte in der Sowjetunion aber bis dahin keine einzige Einzelausstellung stattgefunden.

Subtile Anspielungen

In der Emigration verarbeitet Kabakow nahezu ausschließlich seine sowjetischen Erfahrungen, die in Installationen und utopistische Projektskizzen münden. Russische Kunstinstitutionen verharren in Desinteresse. Erst in der Putin-Ära sorgen die Superreichen für Abhilfe: Oligarchengattin Stella Kessajewa ermöglichte 2004 eine erste große Schau in der Eremitage, 2008 folgte ein Solo im von Roman Abramowitsch finanzierten Museum Garage in Moskau. Abramowitsch soll laut Medienberichten zwischenzeitlich 60 Million Dollar in Kunst von Ilja und Emilia Kabakow investiert haben. Sponsor der aktuellen Schau ist Leonid Michelsons Gaskonzern Nowatek, der die Retrospektive prompt beim Petersburger Wirtschaftsforum im Mai für Werbezwecke instrumentalisierte.

Jüdische Wurzeln

Im Westen, so wie zuletzt in London, feiern die Kabakows weiterhin große Erfolge. Obwohl viele der subtileren Anspielungen an die Sowjetzeit hier gar nicht verstanden werden. Universal verständlich ist hingegen das Schlüsselwerk der aktuellen Retrospektive, das nun zum ersten Mal auch in Moskau zu sehen war. In "Labyrinth (Das Album meiner Mutter)" (1990) montierte Kabakow Memoiren seiner aus der Ostukraine stammenden Mutter. Herzzereißend erzählt sie von permanenten Erniedrigungen durch den sowjetischen Staat, aber auch vom Holocaust, dem zahlreiche Verwandte zum Opfer fielen.

Seine jüdischen Wurzeln scheinen in Kabakows Kunst eine größere Rolle zu spielen als früher angenommen. Womöglich sind fiktive Sowjetbürger in seinen Kunstwerken von persönlichen Identitätskonstruktionen inspiriert. Ein kürzlich veröffentlichtes Archiv zu sowjetischen Holocaust-Überlebenden legt nahe, dass er als Kind den potenziell jüdisch klingenden Namen Leonid getragen haben könnte. Dass aus Leonid Ilja wurde hat noch eine besondere Pointe: Die Aufnahme in die Moskauer Kunstakademie 1951. Aufgrund seines Namens habe man ihn, so Kabakow, fälschlicherweise für einen ethnischen Russen gehalten. Als Jude wäre er nicht aufgenommen worden. (Herwig G. Höller, 25.9.2018)