Böse Frauen und Beethoven: Jeff Lynne und sein Electric Light Orchestra machten in der Wiener Stadthalle mehreren Generationen von Fans toben.

Fischer

Musik und Film verschmelzen oft zu untrennbaren Einheiten. Das Genre des Musikvideos lebt davon, selbst das Kino hat diesbezüglich einige Treffer zu verzeichnen. Einer betrifft das Electric Light Orchestra. Regisseur Paul Thomas Anderson verwendete den ELO-Song Livin' Thing in seinem 1997 erschienenen Film Boogie Nights. Dessen Handlung ist angesiedelt in der Pornofilmindustrie der 1970er.

Burt Reynolds spielt darin einen Pornoregisseur, Mark Wahlberg den Matratzenkönig Dirk Diggler. Den hat die Schöpfung mit einem Gemächt ausgestattet, das einen bürgerlicheren Beruf als vergeudetes Talent erscheinen ließe: 30 Zentimeter Gottes Werk und Teufels Beitrag.

In einer Szene steht Dirk Diggler in der Garderobe vor dem Spiegel und betrachtet sein Talent. Da ertönt der Song Livin' Thing. Er beginnt mit Streichern wie Zuckerwatte, klebrig wie Burt Reynolds' Föhnwelle. Jeff Lynne singt: "It's a livin' thing / It's a terrible thing to lose. It's a given thing / What a terrible thing to lose." Großartig.

Es lebt! Livin' Thing.
concertedla

Als Jeff Lynnes Electric Light Orchestra am Sonntag in der ausverkauften Wiener Stadthalle den Song aus dem Jahr 1976 spielte, waren im Bühnenhintergrund bloß bunte Bilder aus dem Urwald zu sehen. Davor stand Lynne, ein Brite, 70, und bewegte hin und wieder sein linkes Knie zur Musik. Mehr Understatement geht kaum. Im Saal hingegen – da herrschten Jubel und Frohlocken.

Zeug mit Ufos

Denn Lynne und seine zwölfköpfige Band gaben reichlich. Das gehört sich so, das muss so sein, schließlich war das Tablett dieser Band immer üppig belegt, ging oft fast über. Gegründet 1970, wurden sie in der zweiten Hälfte der 1970er weltberühmt. Symphonic Rock, Bombast-Pop, das, was damals als progressiv und futuristisch galt: Zeugs mit Ufos und Lasershows, dazu bestechende Melodien.

Lynne ist das Mastermind dieser Band. Ein gelehriger Beatles-Schüler mit einem sagenhaften Gespür für Arrangements und Hooklines. Doch die 1970er waren im Pop auch das Jahrzehnt der Machbarkeitsstudien. Man schaute, was ging, und Lynne las das Wort Orchestra im Bandnamen als Auftrag: Er fuhr Streicher und Bläser auf und garnierte mit Synthesizern, die damals noch wie Kommandozentralen von Raumschiffen wirkten.

Pilotenbrillen und George Bakers Selection

Im Zentrum dieses üppigen Menüs stand Lynne und sah aus wie der kleine Bruder des George Baker: Schneckerlfrisur und Klobrillenbart. An den Beinen läutete eine Glockenhose, die Augen verdeckte eine Pilotenbrille, in die dunkle Gläser eingeschliffen waren.

So ähnlich sieht er heute noch aus; und auch die Musik ist nicht gealtert. Zwar ist sie zeitlich klar einzuordnen, doch das Infizierungspotenzial von Titeln wie Livin' Thing, Evil Woman oder Rockaria ist zeitlos. Satt wurde gestrichen und gefiedelt, drei Männer massierten Tasten, während im Bühnenhintergrund in üppigen Farben der fantastische Realismus in den Weiten des Universums zelebriert wurde.

Don't Bring Me Down – "groose!"
thomas zeidler

ELO galten lange als der Inbegriff von uncool. Sie spielten Musik für Leute, die mit 90 am Mittelstreifen der Autobahn fahren. Heute ist cool oder uncool das wurscht, denn im Pop wurde jede Zuschreibung schon mindestens dreimal über das Knie der Ironie gebrochen – und Lynne steht da oben und lacht das Lachen eines Stars, der über 50 Millionen Alben verkauft und dies- und jenseits des Atlantik in den größten Stadien gespielt hat.

Entsprechend gelassen interpretierte er seine Songs: Beim discorockigen Shine a Little Love durchmaß ein grüner Laser den Saal, Rockaria, ein Manifest, das klassischen Bombast mit Rock vermählt – Qualität, die besteht. Abgestunken ist nur Wild West Hero, eine Schmonzette aus dem Jahr 1978, die sogar den Eagles peinlich wäre.

"Handle with Care" mit Ersatz-Roy

Mutig stellte er sich der Aufgabe des Songs Handle With Care – eines Hits, den er als Mitglied der Traveling Wilburys geschrieben hat. Das waren neben Lynne George Harrison, Tom Petty, Bob Dylan und Roy Orbison. Zwar hätte es einer Wiederauferstehung des großen Roy Orbison bedurft, um dem Song seine Klasse zu verleihen, der aufgebotene Ersatz-Roy bemühte sich immerhin redlich.

Vom selben Baum stammten Evergreens wie Sweet Talkin' Woman oder das durchs Weltall galoppierende Turn To Stone, das schon vor 40 Jahren die Zuschreibung "Leider geil" ausfasste. Der Rest waren Vocodergesang, Stampfer wie Don't Bring Me Down, angetäuschte Arien und am Ende Beethovens 5. Symphonie.

Turn To Stone – ein Klassiker von vielen vom Baum des ELO.
ELOVEVO

Damit begann Roll Over Beethoven. Chuck Berrys Kampfansage an die Klassik, die er mit Rock 'n' Roll zu überflügeln gedachte. Jeff Lynne aber stellt in seiner Musik beides auf eine Stufe. In seinem Electric Light Orchestra liegen sich diese Welten zu den schönsten Melodien in den Armen. Ein bisschen klebrig, aber stimmig. (Karl Fluch, 24.9.2018)