Der Kompromiss, schrieb der vor genau 100 Jahren verstorbene große deutsche Soziologe Georg Simmel, sei eine der "größten Erfindungen der Menschheit", denn er bildet die Grundlage der Demokratie. Die Idee, keiner könne seine Interessen ganz durchsetzen, jeder müsse Abstriche zugunsten des anderen machen, sorgt in der Tat für den gewaltfreien Ausgleich der Interessen und damit für ein annähernd gerechtes, friedliches Zusammenleben. Diese Devise galt im Großen und Ganzen für die großen Koalitionen der Sozialdemokraten und der Christlichsozialen in Österreich und Deutschland.

Ist diese Überlegung auch gültig für die am Sonntag veröffentlichte Vereinbarung zwischen den Spitzen der SPD, CDU und CSU? Es ging um die merkwürdigen Äußerungen von Hans-Georg Maaßen, dem Präsidenten des Verfassungsschutzes in Deutschland, über die Vorfälle in Chemnitz. Sein Zeitungsinterview, in dem er die Echtheit eines Videos über die Hetzjagd bezweifelt hatte, und die dramatischen Folgen drohten die deutsche Koalitionsregierung zu sprengen. Vor allem die Idee des immer kompromissloser handelnden Innenministers und CSU-Chefs Horst Seehofer, den umstrittenen hohen Beamten sogar zum Staatssekretär zu befördern, und das Nachgeben der SPD-Vorsitzenden Andrea Nahles lösten eine beispiellose Welle der Empörung bei den Sozialdemokraten – und nicht nur dort – aus.

Wogen glätten

Die nunmehr endgültige Entscheidung, Maaßen nicht zu befördern, sondern im Range eines Abteilungsleiters in unveränderter Gehaltsstufe mit internationalen Aufgaben zu betrauen, ist ein Versuch, die Wogen vor den wichtigen Landtagswahlen in Bayern und zwei Wochen später in Hessen zu glätten. Was der israelische Philosoph Avishai Margalit in seinem Buch Über "Kompromisse und faule Kompromisse" schrieb, gilt auch für diese Vereinbarung: "Faule Kompromisse sind niemals gerechtfertigt. Bestenfalls kann man sie entschuldigen."

Es geht überhaupt nicht mehr um eine Personalentscheidung, sondern um die Kernfrage, ob die beiden gespaltenen Volksparteien CDU-CSU und SPD die Erschütterungen der letzten Monate und die bevorstehenden innenpolitischen Kraftproben überstehen können. In Wirklichkeit steht die Koalitionsregierung, die bei den Umfragen nur von 45 Prozent der Befragten unterstützt wird, nach wie vor am Rande des Abgrunds. Nach den Kehrtwendungen der Parteiführung seit der letzten Bundestagswahl werden die Umfragewerte der SPD immer schlechter. Nur 17 Prozent der Wähler würden derzeit die Partei wählen, weniger als die rechtsextreme AfD. Die Grünen steigen auf 16 Prozent. Kein Wunder, dass eine immer stärkere Gruppe in der SPD nur vom Wechsel in die Opposition Erholung erwartet.

Noch will eine knappe Mehrheit der Deutschen keine Neuwahlen. Bei den Landtagswahlen in Bayern wird die bisher dominierende CSU mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dramatische Verluste hinnehmen müssen. Die SPD wird weiter schrumpfen und die AfD ihren Vormarsch fortsetzen. Erst nach der Bayern-Wahl werden die Karten auch in der Bundespolitik neu verteilt – mit allen möglichen Folgen für Europa. (Paul Lendvai, 24.9.2018)