Europa lebt von seiner Vielfalt. Diese muss kein Hemmschuh sein, wenn sich alle an ein paar Spielregeln halten.

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Wolfgang Schmale ist Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Wien. Im Rahmen der Semesterfrage fordert er von der Gesellschaft: "Empört euch!"

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Gemeinsam mit der Universität Wien stellt DER STANDARD die Semesterfrage, die sich im Wintersemester 2018/19 mit der Frage "Was eint Europa?" beschäftigt.

Die Europäische Union allein ist nicht ganz Europa, aber "in Vielfalt geeint" passt für den ganzen Kontinent und wird auch in der EU so verstanden. Sie ist politisch, wirtschaftlich und kulturell offen für die Noch-nicht-Mitglieder, wenn diese die Vielfalt als das Eigentliche Europas anerkennen. Die Türkei tut dies beispielsweise nicht.

Was ist Vielfalt?

Vielfalt, oder auch Diversität, ist das Schlüsselwort einer Weltanschauung. Wichtig ist dabei, die Diversität unter den Menschen positiv zu sehen: Diversität der Herkunft, sexuelle, religiöse und jede Art körperlicher Diversität.

Vielfalt bezieht sich im Kern auf die Vielfalt von Identitäten. Gemeint ist, dass das Zusammenleben in Staat und Gesellschaft besser funktioniert, wenn es viele Identitäten und nicht nur eine einzige nationale gibt. Nationale Identitäten sind schlichtweg eine Erfindung. Oft wird daraus eine Zwangsverbindlichkeit für andere abgeleitet. Diese anderen, ob nun Ausländer, Migranten, Muslime, Juden, Sinti, Roma, Schwule, Lesben, Nichtweiße, oft auch sogenannte Eliten, laufen erfahrungsgemäß Gefahr, zu geschmähten und ausgeschlossenen Gruppen gemacht zu werden. Ihnen drohen verbale und physische Gewalt – bis hin zur Vernichtung.

Vielfalt – aber nur unter zwei Bedingungen

Die Vielfalt setzt sich in den Bereichen Meinung, gewählte Lebensform – beispielsweise gleichgeschlechtliche Ehe plus Kinder –, Mode, Geschmack und dergleichen fort. Vielfalt ist ein anderer Ausdruck für tolerantes miteinander Leben, schließt aber auch zwei Bedingungen mit ein. Zum einen ein ausreichendes Maß an erträglichen Lebensbedingungen, sodass der gesellschaftliche Zusammenhalt gewahrt bleibt. Zum anderen einen Grundkonsens über Werte und Ziele. Das gilt ebenso für den einzelnen Staat und die einzelne Gesellschaft wie für die EU insgesamt. Für den Zusammenhalt soll der europäische Wohlfahrtsstaat sorgen. Alle EU-Bürger genießen dieselben Rechte, wo immer sie in der EU leben. Kampfbegriffe wie "Sozialtourismus", die auf EU-Bürger aus Rumänien, Bulgarien und aus anderen ostmitteleuropäischen Ländern zielen, lassen ein verächtliches Menschenbild erkennen, schließen Menschen aus und schränken Vielfalt ein.

Zusammenhalt entsteht durch Wertegemeinschaft. Im Begriff der Vielfalt drücken sich die europäischen Werte aus, weil es andernfalls keine Vielfalt gäbe: Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bilden diese rechtlich, Solidarität und Humanitarismus ethisch ab. Vielfalt funktioniert nur auf dieser Wertegrundlage.

Vielfalt ist nicht dasselbe wie "Multikulti"

Vielfalt unterscheidet sich von "Multikulti", weil sozialer Zusammenhalt und Wertegemeinschaft zu den Bedingungen lebbarer Diversität gehören und beides nur gesellschaftlich und europäisch gemeinsam bereitgestellt werden kann. Vielfalt ist so etwas wie eine Kultur, deren besonderes Geheimnis es ist, Unterschiede möglich zu machen. Regierungen müssen wissen, dass sozialer Zusammenhalt und Zusammenhalt als Wertegemeinschaft, der die Achtung von Vielfalt zugrunde liegt, zusammengehören. Wenn der Zusammenhalt durch Segregation einzelner sozialer Gruppen aufgerissen wird, wird auch die Wertegemeinschaft gestört.

Der Aspekt des Zusammenhalts erschließt eine enorm wichtige Dimension von Vielfalt. Sie ist ein Ausdruck für das andere Motto: "Nie wieder!" Nie wieder Krieg, nie wieder Genozid, nie wieder staatlich angeordnete Massentötungen, nie wieder Missachtung der Menschenwürde, nie wieder propagandistische Geschichtsklitterung, nie wieder Verhetzung von Menschen – und: nie wieder Leugnung oder Verharmlosung von schlimmsten Verbrechen. Vielfalt ist das gelebte "Nie Wieder!"

"Empört Euch!" für die Vielfalt

"Empört Euch!" schrieb 2010 der 93-jährige Stéphane Hessel, der im Zweiten Weltkrieg Folter und KZ erlebt hatte. Die Empörung gilt all dem, was das "Nie Wieder!" infrage stellt. Deshalb muss man sich für die Vielfalt empören! Sie ist stark gefährdet. Das illustrieren jene Staaten, gegen die ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrages wegen empfindlicher Verletzung des Prinzips der Rechtsstaatlichkeit eingeleitet wurde: Polen und Ungarn. Nächster Kandidat könnte Rumänien werden, wo die erfolgreiche Antikorruptionsstaatsanwältin Laura Kövesi abgesetzt wurde.

Rechtsstaatlichkeit garantiert Vielfalt. Wird das eine angegriffen, fällt auch das andere. Besorgniserregend ist, mit welcher Verantwortungslosigkeit sich allzu viele Menschen, allen voran Politiker, von der Werteordnung verabschieden. Schließlich hat sich Europa auf diese Werteordnung, die sich im Wort Vielfalt bündeln lässt, in zwei Schüben geeinigt – der Westen ab 1945, der Westen plus Osten ab 1989. An die Stelle von "Nie wieder!" tritt "Mehr Nationalismus!". Das ist der Anfang vom Ende des in Vielfalt geeinten Europas. Deshalb: "Empört Euch!" (Wolfang Schmale, 2.10.2018)

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