Der glücklichste Aspekt der Kindergartenzeit lag in der Mitgabe köstlicher Jausen.

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Als man an den Straßenecken Wiens vereinzelt noch auf Kriegsversehrte traf, da war es eine Lust, in den Kindergarten zu gehen. Ich, ein glücklicher Babyboomer, musste zum Besuch einer solchen löblichen Anstalt erst noch nachdrücklich überredet werden. Die sogenannten "Tanten" ragten damals, in den letzten Jahren der ÖVP-Alleinregierung, vor mir wie Fichten hoch. Ihre gestärkten Mäntel knisterten wie Packeis. Aus den lieblichen Quellgründen ihrer Drüsentätigkeit kroch ein Duft wie nach Vanille hervor.

Ihr Wort – in breitem Wienerisch – war Gesetz. Zuwiderhandlungen wurden ohne Versuch, divergierende Interessen diskursiv auszugleichen, mit Klosettarrest geahndet. Der Schrecken dieser kaum minutenlangen Isolationshaft bestand im Fehlen der Beleuchtung: Der Lichtschalter war außen angebracht und blieb zur Beförderung der untertänigen Gesinnung dem alleinigen Gebrauch durch die Tanten vorbehalten.

Die letzte Steigerungsform energischer Unterweisung – wenn das delinquente Kind in der Finsternis um sein Leben schrie – gipfelte in der Ausrufung ewiger Höllenqualen: "Jetzt bleibst für immer drin!", hieß es durch das Türblatt. Merkwürdig: Obwohl man doch in unmittelbarer Nähe einer Toilettenschüssel um sein Seelenheil bangte, ging alles ohne Verzug direkt in die Hosen.

Der glücklichste Aspekt der Kindergartenzeit lag in der Mitgabe köstlicher Jausen. Heute sorgen sich die Mamas rührend um die Ausgeglichenheit der gesunden Pausenkost: Ziegenmilchkäse wetteifert mit Gurkenscheiben um die Gunst des kleinkindlichen Gaumens. Schwach gesüßte Säfte umschmeicheln die Zungen der lieben Schreihälse. Wenn ich mich an die Schuljause erinnere, geht es mir wie Marcel Proust mit der Madeleine: Es gab einen einzigen dominierenden Geruch.

Grobe Brotkanten, dick mit Butter bestrichen, lagerten in Flechtkörbchen mit Lederzungen. Während der Phasen von Jux und Tollerei wurden die Körbchen auf einen Haufen geworfen. Prompt legte sich die pralle Vormittagssonne schwer auf die Molkereiprodukte. Es schien, als ob sich unsere ganze Gesellschaft von innen heraus zersetzen wollte. Die Zeit für die Abwahl der ÖVP-Regierung Klaus war bald reif. (Ronald Pohl, 26.9.2018)