Mit zwölf Jahren nannten sie ihn zum ersten Mal den "Teufel". Fouad (Nachname der Redaktion bekannt, Anm.) fragte seinen älteren Bruder, wer denn dieser "Allah" sei, ob ihn schon einmal jemand getroffen und warum er die Menschen erschaffen habe. Sein Bruder wurde böse, drohte dem damals Zwölfjährigen mit der Polizei und verbot ihm, jemals wieder solche Fragen zu stellen.

Doch Fouad zweifelte weiter an der strengen Auslegung des Islam und an der Religion selbst – für einen Zwölfjährigen in der libyschen Hafenstadt Zuwara keine ungefährlichen Gedanken. "Nur einmal traute ich mich, das Thema noch einmal anzusprechen", erzählt der heute 37-Jährige an Bord des Rettungsschiffs Aquarius: "Ich sprach mit meinem kleinen Cousin darüber." Dann legt er seinen Zeigefinger auf die Lippen. Das Zeichen, das er auch seinem Cousin zeigte: "Ich warnte ihn davor, darüber zu sprechen. Sie könnten uns umbringen."

Flucht aus einem streng religiösen Umfeld

Fouad ist mit seiner 33-jährigen Frau Maha aus Libyen geflüchtet. Er wollte sie und ihre vier Kinder im Alter von sechs bis zwei Jahren aus dem streng religiösen Umfeld befreien. Heute weiß Fouad, dass er Atheist ist. Doch diese Erkenntnis brachte ihm in seiner Heimat täglich Probleme. Als er nach zweijähriger Beziehung Maha im Jahr 2010 heiraten wollte, legte sich seine Familie quer. Maha sei keine ehrenhafte Frau. Sie trage keinen Hijab und würde den Islam nicht ehren. Doch eben das war es, was Fouad an ihr gefiel: "Ich liebe sie, weil sie stark ist und ein gutes Herz hat", erzählt er und lehnt sich über die Reling des Rettungsschiffs: "Wir teilen 95 Prozent unserer Ansichten", sagt er und streicht sich dabei durch seinen leicht grau werdenden Bartansatz.

Das Rettungsschiff Aquarius ist derzeit nahe Malta unterwegs. Die 58 Geretteten sollen von Bord geholt werden und von Malta aus auf vier Länder aufgeteilt werden: Deutschland, Frankreich, Portugal und Spanien.
Foto: APA/AFP/PAU BARRENA

Obwohl Maha sich noch immer als Muslimin bezeichnet, lebt sie die religiösen Gesetze ebenso wenig wie ihr Mann. Außerdem fährt sie selbst mit dem Auto, was in Libyen nicht gern gesehen wird. Fouad erzählt, dass sie auf der Straße immer wieder beschimpft und mit Steinen beworfen worden sei, weil sie keinen Hijab trage. Man schrie ihr auf der Straße "Schlampe" nach.

Freunde wurden zu Extremisten

"Ich habe früh begriffen, dass die Leute die Schriften ihrer Religion zu wörtlich nehmen", erzählt Fouad: "Sie erfinden ihren eigenen Gott." Hie und da ging er in Libyen in die Moschee, um den Schein zu wahren. Seine Familie, Freunde und Menschen aus Zuwara begannen zu fragen, ob er überhaupt gläubig sei.

Laut Fouad ist es seit Ausbruch des Bürgerkriegs im Jahr 2014 schlimmer geworden. Einer seiner Freunde sei quasi über Nacht zu einem Extremisten geworden. "Er ließ sich den Bart wachsen", erzähl Fouad und deutet die Länge mit seiner rechten Hand unter dem Kinn an: "Er wollte, dass ich seinem Beispiel folge, aber ich sagte ihm, dass ich das nicht könnte." Dann begann der Freund Maha über das religiöse Leben Fouads auszufragen.

Als auch seine Kinder in das Thema hineingezogen wurden, begann der 37-Jährige über Flucht nachzudenken. Seine Brüder horchten die Kleinen über Fouad aus, und in der Schule wurde seine älteste Tochter gemobbt: "Am ersten Schultag forderte die Lehrerin die Schüler auf, am nächsten Tag den Koran mitzubringen", erzählt Fouad: "Meine Tochter zeigte auf und sagte, dass wir den nicht zu Hause hätten." Die Lehrerin war schockiert und drohte der Sechsjährigen mit der Hölle für sie und ihre ganze Familie: "Meine Tochter kam verheult nach Hause gelaufen", erzählt Fouad: "Sie schrie, dass sie für uns beten wolle, damit wir nicht in die Hölle kommen."

Schlaflose Nächte

Fouad erzählt von schlaflosen Nächten neben seiner Frau, in denen sie sich weinend in den Armen gelegen hätten. Er selbst habe versucht, das Klima in seiner Stadt zu ändern, habe Tanzaufführungen für Kinder organisiert. Er zückt sein Handy, um die lachenden Kinder auf der Bühne zu zeigen. Fouad muss grinsen beim Anblick seiner Tochter, doch dann wird seine Mimik wieder ernst: "Am nächsten Tag haben sie den Ort niedergebrannt." Wer das getan habe? "Die mit den Bärten", antwortet er.

Auf diesem kleinen Boot wurden Fouad und seine Familie von der Aquarius aufgegriffen.
Foto: Bianca Blei

Vor wenigen Tagen verweigerten ihm schließlich seine Brüder das gemeinsame Abendessen, da er nicht bete. Es war der letzte Abend für Fouad und seine Familie in Libyen. Bereits zuvor hatte er versucht, über einen Mittelsmann ein Visum für Frankreich zu bekommen. "Doch wenn man mit der ganzen Familie reist, ist das schwer", sagt Fouad. Er wurde abgelehnt. Der Mittelsmann behielt das Geld.

Tod oder Leben

Also blieb ihm nur noch die Reise über das Meer: "Ich hatte Angst, meine Frau hatte Angst, doch uns blieb keine andere Wahl. Wir haben nur zwei Möglichkeiten: den Tod oder das Leben", sagt er. Den Kindern sagten sie, dass sie auf Reisen gehen würden, sie wollten sie nicht verängstigen. Fouads Vater und Großvater waren bereits Fischer, und er selbst fischt hobbymäßig gern: "Ich kenne das Meer und kann ein Boot steuern." Also kaufte er eins mit neuem Motor. Doch der Motor gab auf offener See den Geist auf: "Vielleicht hat etwas mit dem Treibstoff nicht gestimmt", sagt Fouad. Sie kreuzten den Weg eines Holzboots voller Migranten. Diese nahmen die Familie an Bord. Es war das Boot, das Sonntagmorgen von der Besatzung der Aquarius gerettet wurde.

Gerettete werden in Malta an Land gehen

Mittlerweile wissen die Helfer der NGOs SOS Méditerranée und Ärzte ohne Grenzen an Bord der Aquarius, dass Malta die Menschen übernehmen wird. Das Schiff selbst darf aber nicht in dem Hafen anlegen, sondern fährt weiter ins südfranzösischer Marseille. Die Übergabe der Migranten soll in den kommenden Tagen über die Bühne gehen. Im Moment ist das Wetter zu schlecht, um die Leute zu transferieren, sagen die maltesischen Behörden. Die Nachricht hatte sich aber zuerst über die Medien verbreitet, auf dem Schiff herrschte lange Ungewissheit.

Die Geretteten wurden in einer Ansprache informiert, dass sie auf die EU-Staaten Frankreich, Spanien, Portugal und Deutschland aufgeteilt werden sollen. Wie eine Sprecherin des deutschen Innenministeriums am Mittwoch in Berlin mitteilte, wird Deutschland 15 der 58 Migranten aufnehmen.

Fouad fragt sich seitdem, welches Land seiner Familie eine Zukunft bieten könnte. Er denkt darüber nach, wo er mit seiner Familie und seinem Nichtglauben sicher sein wird. "Ich glaube, dass wir etwas zu den Gesellschaften in den Ländern beizutragen haben", sagt der 37-Jährige: "Nein, ich weiß das, weil wir etwas beitragen wollen." (Bianca Blei, 26.9.2018)