Der Angriff auf Idlib komplettiert die Rückeroberungsstrategie Syriens, die im vergangenen Jahr in Astana zwischen Russland, dem Iran und der Türkei beschlossen wurde. Um eine humanitäre Katastrophe abzuwenden, wird auf massives Drängen von Erdogan bis Mitte Oktober eine etwa 20 Kilometer breite Deeskalationszone eingerichtet. Ob das Schlimmste so verhindert werden kann, ist zumindest fraglich. Die Maßnahme könnte rein symbolisch bleiben. Warum lässt Europa all das erstaunlich unbeteiligt geschehen?

Die Rückeroberung von Ostaleppo Ende 2016 legte den Grundstein des Problems Idlib: Rebellen, die keinen Kompromiss mit dem Regime eingehen wollten, sich aber ergeben, wurde der Abzug nach Idlib ermöglicht. Der Rest wurde militärisch besiegt. Ähnlich war das Vorgehen in den anderen in Astana beschlossenen Deeskalationszonen. So konnten das syrische Regime und seine Verbündeten schrittweise, aber zügig das Land zurückerobern. Der jüngste Rebellenzuwachs in Idlib stammt aus Ghouta und Daraa, die zuletzt eingenommen wurden. Idlib ist das letzte Refugium der erbitterten Regierungsgegner. Da die Wiederherstellung der Einheit Syriens von Anfang an das erklärte Ziel war, war bereits absehbar, dass auch Idlib irgendwann zur Falle werden würde. Als dort schließlich ein paar Monate darauf die Al-Kaida-nahe Miliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS) die Macht übernahm, kam das Ende des letzten demokratischen Freiraums in Syrien früher als erwartet.

Mit der Konzentration von unbeugsamen Oppositionellen in Idlib hat man die größeren Herausforderungen auf später verschoben. Zusätzlich hat man durch einen verhaltenen Umgang mit jihadistischen Gruppierungen und vehementes Vorgehen gegen moderatere Milizen dafür gesorgt, dass die radikaleren Kräfte in der Mehrzahl sind. So war auch absehbar, dass sich diese mit modernsten Waffen hochgerüsteten Gruppen gegenüber der politischen und pragmatischeren Opposition durchsetzen.

Rebellengewirr

Ein wenig einsichtiges Gewirr aus Einwohnern Idlibs, politischen und moderat islamistischen Rebellen bis hin zu todesbereiten Jihadis wurde sukzessive geschaffen. Damit legten sich Syrien, Russland und der Iran ein solides Fundament, das ihr Vorgehen gegen die letzten Reste der syrischen Revolution vor Europa und den USA zu jedem Preis legitimieren sollte.

Die Türkei wurde mit der Überwachung der Deeskalationszone Idlib betraut. Doch Ankara tat sich schwer, die moderateren Gruppierungen zu separieren. Zu undurchsichtig ist die Durchmischung, zu groß ist der Druck von HTS auf diese Kräfte, auf keinen Fall mit dem Feind zu verhandeln. Militärisch hat sich die Türkei aus Angst vor Vergeltungsschlägen im eigenen Land zurückgehalten. Nun hofft man, dass sich die moderaten Gruppierungen angesichts des massiven militärischen Drucks aus der Umklammerung von HTS in die neue Deeskalationszone retten.

Humanitäre Katastrophe

Ankara ist der einzige Akteur, der ein handfestes Interesse daran hat, eine humanitäre Katastrophe zu verhindern: Die zu erwartenden Flüchtlinge überfordern die nationalen Kapazitäten. Alle anderen wollen ein rasches Ende des Krieges und sind wohl bereit, die Katastrophe in Kauf zu nehmen. Vor allem der Iran kann den hohen finanziellen Aufwand in Zeiten der drohenden Wirtschaftskrise kaum mehr vor der eigenen Bevölkerung rechtfertigen.

Für Europa scheint das jähe Ende der syrischen Revolution in einer humanitären Katastrophe mit Blick auf diese zehntausenden jihadistischen Gruppen in Idlib akzeptabel. Schließlich will sich niemand mit Unmengen an Al-Kaida-nahen Kämpfern in der Nähe der EU-Außengrenzen herumschlagen müssen. So ist die Strategie der "Jihadisierung" des Widerstands durch das syrische Regime vollends aufgegangen. Denn im Kampf gegen den Terrorismus ist man dazu geneigt, Kollateralschäden zu akzeptieren.

Zum anderen hofft man vor allem innerhalb der EU auf eine rasche Normalisierung Syriens, um die ersten Flüchtlinge wieder zurückzuschicken und die Grenzen für Syrer wieder dichtmachen zu können. Mit großem Wohlgefallen hat man daher die vom Assad-Regime und Russland orchestrierten Rückkehrströme wahrgenommen. (Maximilian Lakitsch, 26.9.2018)