Natürlich liegt die Wahrheit nicht im Wein und schon gar nicht in dem Boden, auf dem er reift. Warum Laura (Penélope Cruz) vor vielen Jahren, ehe sie nach Argentinien auswanderte, ihr spanisches Weingut zu einem derart günstigen Preis an den ehemaligen Vorarbeiter Paco (Javier Bardem) verkaufte, weiß man nicht. Außerdem ist das mit der Wahrheit ohnehin so eine Sache: Was die einen, Familie und Dörfler, zu wissen meinen, wollen die anderen nicht glauben. Und wenn sie endlich ans Licht kommt, haben es alle gewusst.

Mantel des Schweigens

Bereits sein Titel Todos lo saben (Everybody Knows) verleiht diesem Film somit einen gefährlichen Klang. Denn was jeder weiß, aber niemand sagt, muss ein dunkles Geheimnis sein; etwas, über das man so lange den Mantel des Schweigens gehüllt hat, dass man seine Existenz beinahe vergessen hat. Bis eines Tages die Vergangenheit wiederkehrt – so wie Laura mit ihren beiden Kindern nach Spanien kommt, um die Hochzeit ihrer Schwester zu feiern. Dass ihr Mann Alejandro (Ricardo Darín) in Südamerika geblieben ist, erklärt sie mit seiner Arbeit. Reich und erfolgreich soll er sein, schließlich hat er sogar die Kirchenfassade in Lauras Heimatdorf restaurieren lassen.

Den Entführern auf der Spur: Penélope Cruz und Javier Bardem belastet zudem die gemeinsame Vergangenheit.
Foto: Thimfilm

Der iranische Autorenfilmer Asghar Farhadi, vergangenes Jahr für The Salesman als besten fremdsprachigen Film Oscar-prämiert, nimmt sich viel Zeit für die Etablierung von Schauplatz und Charakteren, ehe es zum vermeintlich entscheidenden Wendepunkt kommt. Doch dieser ist nur auf den ersten Blick ein solcher. Denn die Entführung von Lauras Tochter, ausgerechnet während der Hochzeitsfeier, wird sich nicht nur als von langer Hand geplant erweisen, sondern in – vorerst noch – unausgesprochene Schuldzuweisungen münden. Nur dass Laura und Paco früher ein Liebespaar waren, bleibt ein offenes Geheimnis.

Kinderaugenhöhe

Everybody Knows, mit dem Farhadi heuer die Festspiele von Cannes eröffnete, funktioniert über weite Strecken wie ein feinziseliertes Familiendrama, das plötzlich ins Thrillergenre abrutscht – allerdings ohne die Bodenhaftung zu verlieren. Das liegt daran, dass Farhadi diesen Boden vorab geschickt mittels Suspense aufbereitet: In Kinderaugenhöhe müht sich etwa die Kamera während der Hochzeit an tanzenden Erwachsenen vorbei und droht so, völlig den Überblick zu verlieren; ein Video der Gesellschaft, deren buntes Treiben zusätzlich von eine Drohne gefilmt wird, soll später als Beweisstück dienen. Doch keine Perspektive ist als Spurensicherung geeignet.

Trailer zu "Everybody Knows"
Film Trailer Zone

Wen dieses Szenario mitunter an die Arbeiten Michael Hanekes oder Michelangelo Antonionis erinnert, liegt nicht ganz falsch. Tief sitzen die Unsicherheit und die Nervosität dieser Figuren, die zwar gelernt haben, sich an die Gegenwart und die Verhältnisse anzupassen, aber dafür einen hohen inneren Preis zahlen müssen. Der zurate gezogene Expolizist, der, um das Leben des Mädchens nicht zu gefährden, die Spur der Entführer aufnehmen soll, wirkt mit seiner nüchternen Bestandsaufnahme der Familienverhältnisse eher wie ein Störfaktor, wenn nicht Eindringling.

Enthüllungen

Farhadi gilt zu Recht als aus gezeichneter Ensembleregisseur, und wenig überraschend verlässt sich der Iraner in seiner ersten spanischsprachigen Produktion mehr auf das Spiel seiner internationalen Stars als auf sein mitunter stark konstruiertes Drehbuch, das im zweiten Teil – den familiären Verwicklungen und Enthüllungen entsprechend – an Komplexität sogar noch zulegt.

Auch wenn die Lösung eines Verbrechens am Ende einfach ist, die Antworten auf ein moralisches Dilemma können es nie sein. Farhadi weiß das sehr genau, und bietet mit Everybody Knows jedenfalls diese Lesart an: Egal wie die Antwort ausfällt, am Ende bleibt man mit ihr allein. (Michael Pekler, 27.9.2018)