Auf den ersten Blick ist die Szenerie idyllisch: der Wiener Stadtpark in flirrendem Sommerlicht, flanierende Passanten, davor der Wienfluss. Erst auf den zweiten Blick wird man der Nische gewahr, in die sich Menschen mit dem Schlafsack zurückgezogen haben. Wir sehen sie und nehmen sie doch nicht wahr. Werden Obdachlose in Großstädten bemerkt, dann meist als Stör faktor, als Bettler, für die wir uns alltagstaugliche Abwehrmechanismen zurechtgelegt haben.

Menschen ohne Obdach wie Herrn Birkner haben Birgit Bergmann, Steffi Franz und Oliver Werani für ihren Dokumentarfilm über längere Zeit begleitet.
Stadtkino Filmverleih

Der Dokumentarfilm Zu ebener Erde: Obdachlos in Wien rückt dieses Phänomen von Anfang an ins Bewusstsein. Schon die erste Begegnung überrascht: Hedy ist in die Betrachtung von Alten Meistern im Kunsthistorischen Museum versunken, bevor es mit der selbstbewussten Frau zu einem Kurzbesuch ins Frauenwohnzentrum geht. Erst als sie an ihrer eigentlichen Schlafstelle, einer Höhle aus Ästen am Wiener Stadtrand, von ihren unsichtbaren Begleitern spricht, bekommt man die Ahnung eines Problems. Später wird sie auf ihre Autonomie insistieren, in einem Uni hörsaal mit einem eloquenten Einwurf verblüffen und am Lager feuer eine traumatische Erfahrung teilen, die zweifellos Spuren in ihrer Biografie hinterlassen hat.

Es ist die große Stärke des Films, dass er das Gesagte nicht kommentiert, sich einer objektivierenden Einordnung enthält. Nur selten wird aus dem Off nach gefragt. Zu ebener Erde nimmt die Porträtierten beim Wort, lässt sie preisgeben, wozu sie bereit sind. Niemand wird vorgeführt.

Rätsel bleiben offen

Filmische Empathie für Menschen, die am Rand der Gesellschaft verortet werden, haben Birgit Bergmann, Steffi Franz und Oliver Werani schon in Dreck ist Freiheit über das Wohnexperiment am Wagenplatz an den Tag gelegt. Für Zu ebener Erde haben sie Menschen ohne Obdach über längere Zeiträume und über die Dreharbeiten hinaus begleitet. Ihr Film lässt den Porträtierten und auch den Betrachtern viel Zeit. Erst allmählich fügen sich die einzelnen Begegnungen zu einem Mosaik zusammen, aus dem sich biografische Anhaltspunkte ebenso rauslesen lassen wie die gesellschaftlichen Verhältnisse. Dass Sucht und psychische Erkrankungen entscheidende Faktoren für das Abgleiten in die Obdachlosigkeit sein können, wird ebenso offensichtlich, wie dass sie als monokausale Erklärungen nicht taugen.

Viele Rätsel, die einem die Menschen in Zu ebener Erde aufgeben, bleiben offen. Am Ende sind einem die Porträtierten aber deutlich näher gekommen. Umso mehr berührt der Tod eines von ihnen. Noch am Grab, als eine Freundin und die Schwester des Verstorbenen aufeinandertreffen, stellen neue Facetten unsere Vorurteile infrage. Nicht zuletzt dieses Aufbrechen eingeübter Wahrnehmungsweisen macht Zu ebener Erde zu einem lohnenden, auch gesellschaftspolitisch relevanten Filmerlebnis. (Karl Gedlicka, 28.9.2018)