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Fieberhafte Suche nach Aufmerksamkeit: Laut einschlägiger Literatur sind Narzissten charmant, manipulativ – und humorlos.

AP/Evan Vucci

Die US-amerikanische Psychologin Jean-Marie Twenge prägte das Schlagwort der "Narzissmus-Epidemie". Doch sind die professionellen und Laiendia gnostiker mitunter selbst Teil des Problems, behauptet der Schriftsteller und Gesellschaftskritiker Richard Schuberth in einem dieser Tage bei Matthes & Seitz erschienenen provokanten und amüsanten Essay. Schuberth spürt der Geschichte der Verkapselung des modernen Ichs nach, prüft das Phänomen an den Spannungspolen gesellschaftlicher Konformismus und Widerstand, analysiert, warum wir alle unter gegebenen neoliberalen Bedingungen narzisstisch sein müssen, mokiert sich über den akzeptierten Narzissmus der sozialen Medien und findet am Ende dennoch eine optimistische Antwort auf die heikle Frage, ob man sich nun selbst Zungenküsse geben darf ... Lesen Sie nach.

Charmant und manipulativ ...

Der Narzissmus hat mich immer vor Rätsel gestellt. Das größte war wohl die Frage, ob der idealtypische Narzisst sich nun durch die Sucht nach Anerkennung oder durch seine Unabhängigkeit davon charakterisiere. Eine befriedigende Antwort darauf lässt sich in der Fachliteratur kaum finden.

Ausgefuchste Dialektiker unter den Psychoexperten würden wohl argumentieren, dass die beiden Dispositionen in keinem Widerspruch zueinander stünden, sondern einander auf heimlichen Wegen bedingten. Denn die überhebliche Selbstgenügsamkeit des Narzissten sei nur ein Schutzfilter, um jenes Feedback abzublocken, das nicht mit dem idealen Selbstbild kompatibel ist, daneben suche er jedoch fieberhaft nach Gratifikation.

Er braucht die Likes, aber nicht die Liker. Er ist süchtig nach positiver Bestätigung, um die imaginäre Position zu halten, von der er weiterhin auf seine Bestätiger her abschauen kann. Der richtige Narzisst ist selten der Dandy, der seinem Spiegelbild Küsschen zuwirft, da er zu solch augenzwinkernder Selbstobjektivierung kaum fähig ist. Narzissten, so bekunden die meisten einschlägigen Be stimmungsbücher, können charmant, betörend und manipulativ sein, doch selten besitzen sie Humor. (...)

Es kommt zum scheinbaren Paradox einer ichbezogenen Entindividualisierung. Je mehr ein solcher Innenbezug zur allgemeinen gesellschaftlichen Norm wird, desto narzisstischer erscheinen Reste nichtnarzisstischer, erfahrungsfreudiger und spontaner Individualität; solcher, die über ihr Ich die Welt erfahren will und nicht über die Welt sich zu erfahren glaubt. Die Verweigerung der kollektiven Nabelschau stößt dann auf als eitler Eigensinn. (...)

Der Egomane versteckt sich neuerdings wieder hinter gemeinschaftlichen Tugenden. Die Gemeinschaften indes bleiben vir tuell, und dort, wo sie sich wirklich konstituieren, wüten sie als völkische und religiöse Kollek tive.

Die Exzesse der Egomanie aber werden von ihren moralischen Korrektiven begleitet, und beide werden über denselben Bewusstseinsmarkt reguliert. Letztere dienen natürlich nicht der Überwindung des Systems, sondern der Ablenkung durch Buße. Die Ei genverantwortlichkeit des asozialen Gewinners soll der Eigenverantwortlichkeit des sozial verträglichen Verlierers weichen.

Statt politischer Solidarität wird Nächstenliebe, statt Selbstermächtigung Selbstlosigkeit, statt Egalität Anständigkeit eingefordert. Als würde es nicht ohnehin schon aus dem letzten Loch pfeifen, wird dem neoliberalen Ich sowohl Mobilität als auch Standorttreue, Optimierung und Mäßigung, Selbstdarstellung und Bescheidenheit, Höchstgeschwindigkeit und Entschleunigung, Völlern und Fasten, Pornografisierung und Verantwortungssex, Rücksichtslosigkeit und Empathie, Craziness und Stabilität, Rollenflexibilität und Natürlichkeit, Konsum und Sparsamkeit abverlangt. Wäre diese Macht nicht weitgehend anonym und den Einzelnen internalisiert, könnte man sich leicht das sadistische Lachen einer olympischen Götterriege vorstellen, die da ihre grausamen Spielchen mit den Sterblichen treibt. (...)

Servicezonen-Narzissmus

Als Abgleichung für seine reale Ohnmacht bietet sich dem Rudersklaven der eigenen Galeere eine konsumistische Hybris an, die ich Servicezonen-Narzissmus nennen will. Die Allmachtsfantasien der Ohnmächtigen müssen gefüttert werden durch die Illusion, allüberall umhegt, bedient und begehrt zu werden sowie an den Geschicken der Welt partizipieren zu können.

Die Votingshows zum Wechsel der Legislaturperioden, auch demokratische Wahlen genannt, bei denen "the nation’s next redistribution gang" ermittelt wird, waren nur die Probeläufe zur direkten Votingdemokratie der Konsumenten, die nichts bewirkt als besseres Product-Placement und die Säuberung der Gesellschaft von allem, was Spuren ungenormter Wahrheit trägt. Permanentes Abstimmen, Voten, Liken und Meinen als infantiles Surrogat echter Mitgestaltung eines Drehbuches, in dem jeder die Hauptrolle hat und bei dessen Realisierung jeder nur Statist gewesen sein wird. (...)

Das narzisstischste Ego aller Zeiten, auf dem Strampelrad seiner Selbstoptimierung, ist zudem das fragilste und selbstgefälligste aller Zeiten, seine narzisstischen Wünsche dürfen sich nie erfüllen, aber permanent muss es mit kleinen Nadelstichen gekränkt werden – nie so stark, dass es vom Rad fällt, aber stark genug, dass es nicht aufhört, die Differenz zwischen verletztem Selbstwert und Grandiosität erstrampeln zu wollen, und die Communitys, von denen es geliebt werden will, müssen natürlich genauso Versprechen bleiben wie seine Identität: Die Bewunderung der Kollegen, der Sixpack, die Eroberung der tollsten Frauen und Männer, die telenovelareife Feier des eigenen Siebzigers mit einer Großfamilie, die einen wirklich liebt; diese wie alle anderen Fata Morganen müssen stetig näher rücken, aber nie erreicht werden, die dabei erstrampelte Energie aber beheizt die Chefetagen dieser Welt.

Die produktive Destruktivität dieses Modells, das immense Zivilisationsschübe in Bewegung gesetzt hat und an humanem und technischem Fortschritt nicht wenig bewirkt, wird den vernunftbegabten Bewohnern anderer Galaxien dereinst so böse vorkommen, dass sie auch benachbarte Sonnensysteme des kleinen blauen Planeten unter Quarantäne stellen, um sich vor einer Kontaminierung durch diese Erbärmlichkeit kosmischen Ausmaßes zu schützen. (...)

Toxische Bestätigung

Der Wunsch, anzukommen und nicht abzublitzen, mag so banal und selbstverständlich wirken, dass man nie ahnen würde, damit den sozialpsychologischen Generalschlüssel zu dem Geheimnis in den Händen zu halten, warum alles schlechterdings so bleibt, wie es ist. Und wer vor der Banalität nicht scheut, diesen gewöhnlichen Schlüssel in sein gewöhnliches Schloss zu stecken und ihn dort umzudrehen, wird aus dem Staunen nicht herauskommen, wenn das Geräusch der aufspringenden Wahrheitsschatullen in ein weltumspannendes polyrhythmisches Klicken sich vervielfacht, das plötzlich den ganzen faulen Zauber der sich schnappartig öffnenden Egomonaden enthüllt – weil keine gruselig-schönen Spieldosenmelodien erklingen, sondern nichts als peinliches Schweigen einkehrt.

Erst der Verzicht auf toxische Bestätigung wird diese Mechanik der Zustimmung blockieren können, die konformistische Zentripetalkraft in Richtung Nichts bremsen. Je mehr Unabhängigkeit von Anerkennung gewonnen wird, je mehr Helden und Heldinnen es schaffen, ihren Selbstwert aus der Drosselung ihrer Belohnungsbedürfnisse zu beziehen, desto eher werden die Faszien des hässlichen Gesellschaftskörpers reißen und die Marionettenfäden der eingebildeten Selbstbestimmten gekappt werden. (...)

Auf moralische Verfehlung oder psychopathologisches Defizit her untergebrochen, leiden der verwöhnte Reiche und der unbotmäßige Plebejer dann am selben Schaden. Das Problem ist aber kein moralisches, sondern ein strukturelles: Die kognitive Verzerrung, kraft deren sich der in Allmachtsfantasien Flüchtende seiner realen Ohnmacht nicht bewusst wird, ist der problematische Aspekt seines Narzissmus.

Ansonsten hat der Mensch allen Grund und alles Recht, etwas Besonderes zu sein, den Göttern das Feuer zu stehlen, sich in seinem Spiegelbild zu gefallen, seine Lust in Einverständnis mit anderen zu befriedigen, zu nehmen, was man ihm vorenthält, und sich individuelle Erfüllung und soziale Verträglichkeit nicht als Widerspruch aufschwatzen zu lassen.

Aber auch diese bescheidenen Rechte stehen mittlerweile unter Narzissmusverdacht. Bei Therapeuten und Gesellschaftskritikern, die selbst – ob bewusst oder nicht – zu Predigern einer neuen Entsagungsethik wurden, welche wiederum der narzisstisch-neoliberalen Hybris folgen musste wie der Winter dem Sommer, Cromwell dem König Charles, wie Christopher Lasch und Raphael Bonelli dem geilen Faun Marcuse. (Richard Schuberth, 30.9.2018)