Als weithin unbedanktes Gegenstück zum Stehaufmännchen darf der Sozialtypus des Horváth-Fräuleins gelten. Ein solches Geschöpf heißt Marianne oder, wie in unserem Fall, Elisabeth (Andrea Wenzl) und reagiert unter wirtschaftlichem Druck mit enormer Anpassungsfähigkeit.

Im Wiener Burgtheater hat Elisabeth, die Heldin des Totentanzes Glaube Liebe Hoffnung, vor der unsichtbaren Mehrheitsgesellschaft brav Aufstellung genommen. Ein Kind der neu-sachlichen Epoche, das einsam in der Finsternis wacht und sich noch rasch die Lippen nachzieht, ehe es sich für sein soziales Versagen vor uns Zuschauern rechtfertigt.

Ihr "graust es noch lange vor nichts": Andrea Wenzl als Horváth-Fräulein, das sich von seinen herzlosen Vernichtern partout nicht unterkriegen lassen will.
Foto: Werner /APA

Alles Gute – und das ist herzzerreißend wenig – kommt für das Fräulein im Geblümten von oben. Die Öffnung eines gigantischen Trichters klafft oberhalb seines Scheitels (Bühne: Olaf Altmann). Das Licht fällt in fahlen Bahnen auf die zähe Person. Und Elisabeth rechtfertigt ihr früh sich abzeichnendes Scheitern (als Vertreterin von Miedern und Strumpfgürteln) nicht etwa beleidigt, sondern als Muster an Flexibilität.

Der Staat hat ihr keine "Stellung" verschafft. Es war ihr von vornherein bestimmt, "abgebaut" zu werden. "Aber ich habe den Kopf nicht hängen lassen!", spricht Wenzl voller Zuversicht den Refrain dieser morbiden Abwicklung eines Frauenschicksals. Ein "Schupo" (Merlin Sandmeyer) taucht barhäuptig hinter ihr auf. Das Vollzugsorgan der gesellschaftlichen Gewalt beschnuppert das Mädchen von der Seite, als wäre es ein modrig riechendes Präparat.

Wandelnde Kalenderspruchweisheiten

Tatsächlich besitzt Elisabeth eine einzige Option, um sich selbst zu Geld zu machen. Sie verkauft den Leichnam, der sie einmal sein wird, schon zu Lebzeiten. Aber die Gerichtsmediziner in ihren Schlachterschürzen haben natürlich nicht die geringste Verwendung für ihr bisschen Fleisch und Blut. Alle Ödön-von-Horváth-Figuren sind nichts anderes als wandelnde Kalenderspruchweisheiten. Und Regisseur Michael Thalheimer, der Pocket-Tragöde des deutschsprachigen Theaters, schneidet sie obendrein von aller sozialen Blutzufuhr ab.

Das ist lange Zeit ästhetisch atemberaubend. Diese Welt der Kleingewerbetreibenden und Menschenvernichter verkommt zum Spukhaus. Am Trichtergrund der sozialen Mühle kläffen die Opfer der Krise einander tot. Oder vergießen, wie der Vizepräparator (Falk Rockstroh), über ihren "verreckten" Rehpintscher bittere Krokodilstränen. Oder nicken mit weit aufgerissenen Augen mechanisch Zustimmung zum haltlosen Geschwätz sozial Abgehängter (Irina Sulaver). Jede Figur: ein Rufzeichen. Es ist etwa fünf Minuten nach Zwölf. Man scheut sich, den Faschismus der 1930er-Jahre bloß einen "heraufziehenden" zu nennen. Mühen sich die Figuren aneinander ab, flutet Thalheimer die Bühne mit Statistenheeren. Der Kapitalismus produziert das Elend am Fließband, und hinter jedem Einzelschicksal lauert das Ersatzheer der frisch Auszubeutenden.

Böses Gelächter

Kaum beginnt Thalheimers Bescheidwisserei zu nerven, reißt Wenzl die Aufführung an sich und verbürgt ihr vorzügliches Gelingen. Von einer Zufallsbekanntschaft auf der Landstraße (Daniel Jesch) muss sie sich – gleichsam beiläufig – vergewaltigen lassen ("Jeder ist sich selbst der Nächste!"). Das böse Gelächter der Präparatoren und ihrer Leichenlieferanten ist da gerade verhallt. Immer dichter hageln die Repressionen auf die patente Elisabeth in ihren zerrissenen Strumpfhosen ein. Die Wäscheverhökerin Prantl (Christiane von Poelnitz) gibt eine herrliche Macbeth-Hexe. Der Herr Amtsgerichtsrat (Peter Matić) erscheint wie eine mit Galle gezeichnete Karikatur. Und doch muss es noch etwas Besseres geben als dieses Reich, in dem die Sonne nie aufgeht. Eine Zivilisation, in der man Led Zeppelins Kashmir maghrebinisch stampfen hört: als Freiheitsversprechen. Da ist Elisabeth, von ihrem angstneurotischen Schupo verlassen, längst ins Wasser gegangen (um auf Raten zu verrecken).

Aber dieses Horváth-Fräulein hat das Reich der Freiheit niemals vergessen: oberhalb des Mahlwerks im Trichter. Von dort bringt die wunderbare Wenzl den unsichtbaren Goldstaub der Widersetzlichkeit mit, denn: "Mir graust es noch lange vor nichts!" Die Aufführung ist ihr Triumph: vom Schupo mit einer Aster aus dem Hosensack beworfen. Ein toller Horváth, von Thalheimer aus der Distanz inszeniert. Aber Elisabeth ist uns dann doch die nächste. (30.9.2018, Ronald Pohl)