San Sebastián – Mit dem Film Festival von San Sebastián schließt jährlich der Reigen der prestigereichsten europäischen Festivals. Allen Abgesängen auf das Kino zum Trotz lässt sich resümieren: 2018 war ein bemerkenswertes Jahr für den Film. Nach einem überzeugenden Wettbewerb in Cannes vor allem mit starken Beiträgen aus Europa und Asien und einem Venedig, das mit Oscarkandidaten aus Hollywood viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte, lieferte auch San Sebastian einen seiner besten Wettbewerbe der letzten Jahre.

Angelo Soliman als Projektionsfläche der höfischen Gesellschaft

Vertreten waren nicht zuletzt einige Regisseure, die mit früheren Filmen in Cannes um die Goldene Palme konkurrieren konnten, Naomie Kawase, Claire Denis, Brillante Mendoza und der Österreicher Markus Schleinzer – der mit Angelo in dieser illustren Reihe den stärksten Film präsentierte. Seine Geschichte des im 18. Jahrhundert als Kind nach Europa verschleppten Afrikaners Angelo Soliman, der es unter anderem als Gesellschafter am Hof Josef II. zu einiger Bekanntheit brachte, verzichtet auf die übliche geschlossene, psychologisierende Erzählung des Biopic-Genres.

"Angelo" von Markus Schleinzer ging im Wettbewerb leer aus.
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Stattdessen liefert er Schlaglichter eines Lebens, das zerrissen wurde durch das Paradox einer zugleich privilegierten und subalternen Stellung. Soliman ist für seine höfische Umgebung nicht Individuum, sondern vor allem Projektionsfläche: Großartig sind die Szenen, in denen der Monach Angelo gegenüber über die Last seiner absoluten Macht klagt. Wie gerne wäre er doch als Kind für Fehlverhalten bestraft worden, doch keiner durfte Hand an ihn legen. Der Kaiser sieht offenbar Parallelen zwischen ihm und dem exotischen Fremden: Beide sind "Unberührbare".

Zwei ungleiche Brüder in "Entre dos aguas" (Regie: Isaki Lacuesta)
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"Entre dos aguas": Geschichte zweier ungleicher Roma-Brüder

Am Ende ging Angelo bei den Preisen allerdings leer aus. Ausgezeichnet wurden unter anderem zwei Filme, die sich einem ungebrochenen Hyperrealismus verschrieben haben – mit mitreißendem Ergebnis. Der Spanier Isaki Lacuesta nimmt zwölf Jahre nach seinem Film La leyenda del tiempo in Entre dos aguas die Geschichte zweier Roma-Brüder wieder auf: Isra ist gerade aus dem Gefängnis gekommen, wo er wegen Drogenhandel saß, Cheito kommt dagegen zurück von einer längeren Mission als Bäcker auf einem Kriegsschiff der spanischen Marine.

Das Wiedertreffen löst Erinnerungen aus an ihren Vater, der eines gewaltsamen Todes starb. Die Geschichte vom "guten" und "schlechten" Bruder geht natürlich zurück bis zu Kain und Abel, Lacuesta löst in seinem halbdokumentarischen Film aber die klaren moralischen Kategorien auf. Die mythische Grundierung der Geschichte gibt dem Sozialrealismus dabei ein besonderes Pathos. Das zeichnete die Jury rund um den US-amerikanischen Regisseur Alexander Payne mit der Goldenen Muschel für den besten Film aus.

"Blind Spot": Realzeit in der Notaufnahme eines Krankenhauses

Um den Realismus ihres Spielfilmdebüts zu potenzieren, setzt die norwegische Schauspielerin Tuva Novotny in Blind Spot nicht auf Laiendarsteller, sondern auf eine Handlung fast in Realzeit. Der Film ist eine Tour de force, die dieses Jahr im Kino ihresgleichen sucht. Sie folgt in einer ungeschnittenen Einstellung einer Mutter in die Notaufnahme eines Krankenhauses, nachdem sie eine schreckliche Tragödie heimgesucht hat. Auch wenn der Film nicht richtig plausibel machen kann, warum er seine ungewöhnliche Form gewählt hat, muss man Novotnys Selbstbewusstsein bewundern, mit der sie die internationale Festivalbühne betritt. Verdient wurde hier Pia Tjelta für ihre völlig verausgabende darstellerische Leistung ausgezeichnet.

Hinter die gutbürgerliche Fassaden einer argentinischen Kleinstadt der 1970er – kurz vor dem Militärputsch – schaut "Rojo" (Regie: Benjamin Naishtat).
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"Rojo" über eine Kleinstadt in Argentinien kurz vor dem Militärputsch

Gleich drei Preise – beste Regie, bester Hauptdarsteller, beste Kamera – erhielt Rojo des Argentiniers Benjamín Naishtat – unter den Hauptpreisträgern der einzige Film, der dem Realismusdiktum nicht folgt. Erzählt wird die Geschichte einer Kleinstadtgesellschaft im Argentinien kurz vor dem Militärputsch der siebziger Jahre. Hinter den gutbürgerlichen Fassaden hat hier jeder Dreck am Stecken, und wer die Ruhe stört, verschwindet schon einmal spurlos. Mit Zooms, Tricklinsen und weichen Kontrasten rekreiert Kameramann Pedro Sotero virtuos den Look aus Filmen der Zeit und schafft eine Stimmung der Enge und Paranoia. Ein Film über vergangene politisch polarisierte Zeiten, der unheimlich aktuell wirkt. (1. 10. 2018, Sven von Reden aus San Sebastián)