Charles Aznavour wirkte, als hätte er die Zeit zum Stillstand gebracht. Nun ist er 94-jährig in Südfrankreich gestorben.

Foto: APA / AFP / Joel Saget

Mouriès – Charles Aznavour hatte vor einer Weile wegen zweier Armverletzungen seine Konzerttournee, die scheinbar niemals enden wollte, unterbrochen. Und wiewohl der französische Chansonnier mit armenischen Wurzeln längst schon seinen 94. Geburtstag gefeiert hatte, wollte sich in der Szene keinesfalls übergroße Sorge einstellen.

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Vital in Wien

Es war ja kein Jahr her, dass Aznavour die volle Wiener Stadthalle mit einem Abend berückt hatte, der natürlich ohne Pause auskam. Und: All seine Qualitäten waren noch zu hören, an Abschied dachte niemand. Der vitale kleine Herr mit den roten Hosenträgern (die er nicht gebraucht hätte) erweckte jene schöne Form der Nostalgie, welche durch den in seinen Liedern aufbewahrten Tonfall des wehmütigen Sehnens befördert wurde. Natürlich war darin immer jener raue Tonfall samt rollendem "r" dominant, der bei aller romantischen Grundstimmung Markenzeichen des Sängers blieb. Aznavours Charme war ohne das spezielle Reibeisentimbre niemals vorstellbar.

"She" und andere Songs

Aznavour, 1924 in Paris als Kind einer armenischen Familie geboren, die 1915 vor dem Osmanischen Reich nach Frankreich flüchtete, wurde einst von Sängerin Édith Piaf – mit erheblicher Wirkung auf seine Karriere – auf die Bühne geholt. Er sollte die Chance nutzen: Aznavour schrieb über tausend Chansons, zu seinen bekanntesten gehören "Mes amis, mes amours, mes emmerdes", die Ballade "She", die übrigens Elvis Costello für den Film "Notting Hill" coverte, natürlich auch "La Bohème" und "For Me Formidable".

Aznavour, der rund 200 Millionen Alben verkaufte, wirkte auch als Schauspieler an über 70 Filmen mit. Etwa in der Oscar-prämierten Verfilmung "Die Blechtrommel" von Volker Schlöndorff.

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Die Zeit stand still

Vor allem bleibt er aber als Vertreter einer Generation in Erinnerung, die das Interpretieren von Songs auch als ins Schauspielerische reichende subtile Darstellungskunst verstand. Wer den schlanken Herrn bei seinen pausenfreien sprechgesanglichen Exkursen erlebt hat, sah sich mit einer Kunst konfrontiert, welche große Räume wie von Zauberhand zu kleinen Bars werden ließ, in denen nächtens Geschichten von Liebe und Leben erzählt wurden.

In solchen Augenblicken wollte der Zuseher auch über eine Neudefinition dessen, was Alter sein soll, mutmaßen. Aznavour wirkte, als hätte er die Zeit zum Stillstand gebracht. Das war allerdings Kunst; nicht das Leben. Charles Aznavour ist Sonntagnacht in seinem Haus im südfranzösischen Mouriès im Alter von 94 Jahren gestorben. (Ljubiša Tošić, 1.10.2018)