Angela Merkel, diese herausragende Politikerin, hat den richtigen Moment für einen Abgang mit Würde verfehlt.

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Für Journalisten sind die Kombinationen über den Aufstieg oder den Abgang eines Politikers das spannendste Thema und zugleich eine Gelegenheit, genüsslich die Rolle des neutralen Schiedsrichters zu spielen. In Österreich haben die Rücktritte dreier Spitzenpolitiker – Eva Glawischnig von den Grünen, Matthias Strolz von den Neos und Christian Kern von der SPÖ – aus unterschiedlichen Gründen und mit gänzlich verschiedenen Folgen die Öffentlichkeit völlig überrascht. In Deutschland gehen – ausgenommen den Sonderfall Martin Schulz – die Uhren anders; erst recht, wenn es sich um die Position des Bundeskanzlers handelt.

Selbst solche Ausnahmekanzler wie Konrad Adenauer und Helmut Kohl verpassten den richtigen Zeitpunkt für den Abgang mit Würde. Wie in dieser Kolumne schon früher festgestellt wurde, hat auch Angela Merkel, diese herausragende Politikerin, den richtigen Moment verfehlt. Nun wird seit der überraschenden Abwahl des CDU/CSU-Fraktionschefs, ihres engsten Partners, die Dynamik der Bewegung "Merkel muss weg" unkontrollierbar. Nach 13 Jahren an der Macht wird sie von allen Medien und im brutalen Ton von den Rechtspopulisten zum Rückzug aufgerufen. Trotz ihrer zuletzt erfolgten gegenteiligen Erklärung wird ihr auch von liberalen Blättern geraten, den CDU-Vorsitz auf dem Parteitag im Dezember und das Kanzleramt im kommenden Jahr abzugeben.

Abschied auf Raten

Wird aber Merkel nach den Landtagswahlen in Bayern und Hessen überhaupt noch eine Chance haben, einen geordneten Abschied auf Raten vorzubereiten? Es ist traurig, wenn eine im Grunde erfolgreiche Ära sich dem Ende zuneigt. Diesmal aber vermischt sich dieses Gefühl mit kaum verhüllter Sorge um die chaotischen Folgen in der deutschen Innenpolitik nach einem möglichen überstürzten Rücktritt Merkels. Einer der schärfsten Kritiker der Kanzlerin, "Welt"-Herausgeber Stefan Aust, zitierte dieser Tage aus jenem Brief, den Merkel 1999 zum Epilog der Ära Kohl schrieb: "Die Partei muss also laufen lernen, muss sich zutrauen, in Zukunft auch ohne ihr altes Schlachtross (...) den Kampf mit dem politischen Gegner aufzunehmen."

Was als besonders bedenkliche Tatsache erscheint, ist der Gegensatz zwischen der blühenden Wirtschaft und dem Zerfallsprozess der traditionellen Volksparteien, der SDP und der CDU/CSU vor dem Hintergrund auch des Vormarschs der AfD, einer bereits im Bundestag vertretenen rechtsradikalen Partei. Die Zweifel an einer baldigen Rückkehr zur politischen Stabilität im Schlüsselstaat der EU werden von Tag zu Tag stärker.

Es geht nicht nur um den befürchteten weiteren Höhenflug der extremen Rechten in Deutschland, sondern – von Großbritannien und Frankreich bis zu den Vereinigten Staaten – um das Misstrauen der Bürger gegenüber den jeweiligen Regierungen. Zu den beunruhigendsten Fragen gehört auch weltweit die zunehmende Untergrabung der demokratischen Willensbildung durch Cyberattacken, Hacker und Trolle, durch systematische Lügenkampagnen. Der Absturz der politischen Akteure der demokratischen Institutionen ist aber vor allem die Folge des Versagens der Eliten. (Paul Lendvai, 1.10.2018)