Kein Brainstorming, keine Ideen: Viele Arbeitgeber sind zu Arbeitsverhinderern geworden, es herrscht ein Diktat der Unvernunft. Mitarbeiter müssen tun, was ihnen gesagt wird, weil es ihnen gesagt wird – auch wenn es der letzte Humbug ist.

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Als der Filialleiter sie zu einem Vier-Augen-Gespräch bat, dachte Emma Zauner (26) an nichts Böses. Warum auch? Seit zwei Jahren galt sie als gute Fee des Coffee Shops. Die Kunden schwärmten von ihrer Herzlichkeit, jedem gab sie an der Theke das Gefühl, der wichtigste Mensch der Welt zu sein.

Dabei half ihr gutes Gedächtnis. Sie begrüßte Stammkunden mit Namen und las ihnen die Wünsche von den Lippen ab: "Wieder Käsesahne, Herr Meyer – und einen Pfefferminz-Tee dazu?" Und Herr Meyer, ein Rentner, der jeden dritten Tag kam, strahlte übers ganze Gesicht: "Sie kennen mich perfekt!" Der Filialleiter räusperte sich und kam zur Sache: "Also, Frau Zauner, wir hatten neulich einen Qualitätsmanager aus der Zentrale hier. Der hat Ihnen inkognito eine Stunde bei der Arbeit zugeschaut."

Emma Zauner wusste, dass es gelegentlich solche Kontrollen gab, und sie hatte ein gutes Gewissen: "War er zufrieden?"

Die Miene ihres Chefs verfinsterte sich. "Es gibt Kritik an ihrem Umgang mit den Kunden."

"Wie bitte? Ich bin doch zu jedem freundlich!"

"Das bestreitet niemand."

"Und die Kunden mögen mich."

"Das bestreitet auch niemand."

"Aber?"

Ihr Chef kratzte sich am Ohr. "Sie verstoßen gegen die Service-Richtlinien. Sie wissen doch, was die Geschäftsleitung vorschreibt: Wenn ein Kunde nur etwas zu trinken bestellt, müssen Sie etwas zu essen anbieten. Und umgekehrt."

"Aber das mache ich doch!"

"Leider nicht regelmäßig. Der Qualitätsmanager hat in einer Stunde vier Verstöße registriert."

Emma Zauner grübelte, ehe ihr Gesicht sich aufhellte: "Das kann ich erklären: Ich kenne meine Stammkunden. Ich weiß, wer nie etwas zum Kuchen trinkt – oder nie etwas zum Kaffee isst."

"Das weiß unser Qualitätsmanager aber nicht. Die Vorschrift ist eindeutig."

"Aber was denken die Stammkunden von mir, wenn ich ihnen jeden Tag wieder ein Getränk anbiete – und sie mich jeden Tag wieder daran erinnern, dass sie keines wollen? Das wäre doch unhöflich."

"Das wäre korrekt! Außerdem müssen Sie die Kundenwünsche abwarten. Oft haben Sie ihnen Bestellungen in den Mund gelegt. Das gefiel dem Qualitätsmanager gar nicht."

Das Unfassbare geschah: Emma Zauner, die Heldin ihrer Kunden, kassierte eine Abmahnung – wegen "Serviceverstößen". Ihr Filialleiter gab zu verstehen, eines seiner eigenen Jahresziele sei, den Service zu verbessern – diese Abmahnung sende auch "ein Signal nach oben".

Tun, was befohlen wird

Viele Arbeitgeber sind zu Arbeitsverhinderern geworden, es herrscht ein Diktat der Unvernunft. Mitarbeiter müssen tun, was ihnen gesagt wird, weil es ihnen gesagt wird – auch wenn es der letzte Humbug ist. Die Regelwerke sind wie Gefängniszäune, sie schließen den Verstand aus. Der schwerste Fehler, den Sie als Mitarbeiter 200 Jahre nach Beginn der Industrialisierung begehen können? Sie nutzen Ihren Kopf nicht zum Nicken, sondern zum Denken!

Ein paar Beispiele, wie ich sie jede Woche von meinen Klienten höre: Wer sein Management auf ein Problem hinweist, wird selbst mit diesem Problem verwechselt. Dann ist der Termin eben nicht zu eng gelegt, sondern der Mitarbeiter zu langsam. Und basta. Wer die Kundenfreundlichkeit ernster als seine Firma nimmt, wie Emma Zauner, bekommt keinen Orden, sondern wird zur Ordnung gerufen; "Extrawürste" sprengen die Richtlinien. Und gerade neulich hat mir ein junger Ingenieur erzählt, wie es sich ausgewirkt hat, dass er seinem Chef bei Meetings mehrfach vor einer Fehlentscheidung warnte: Sein nächstes Mitarbeitergespräch geriet zum Kriegsgericht – angeklagt als Deserteur.

Es ist ein Hohn: Überall singen die Firmen das hohe Lied vom modernen Mitarbeiter, überall schwärmen sie vom "Mitunternehmer" und vom "Wissensarbeiter". Doch hinter den Firmentoren drehen sich die Zeiger in die falsche Richtung, die Fließbänder der Bürokratie bringen den Taylorismus zurück: Vorgabe schlägt Verstand.

Wenige Innovationen

Vorgesetzte diktieren Abläufe, Dienstwege bremsen zeitnahe Entscheidungen aus, und ein Parcours aus bürokratischen Fallstricken verhindert zwar nicht, dass ein Mitarbeiter pünktlich zur Arbeit kommt, ganz sicher aber, dass er pünktlich zum Arbeiten kommt. Und keiner bemerkt mehr die Ironie, wenn es nach dem dritten Meeting des Tages heißt: "Zurück an die Arbeit!"

Erwachsene Menschen, nach Feierabend geschäftsfähig als Lebenspartner, Eltern oder Häuslebauer, geraten in ein riesiges Entmündigungsverfahren. Auch wenn sie von ihrem Fach mehr als die Vorgesetzten verstehen: Ihre Meinung ist nicht gefragt, ihr Handeln vorgegeben. Diese Infantilisierung kostet Innovationen: Während bei Toyota in Japan jeder einzelne Mitarbeiter 62 Verbesserungsvorschläge im Jahr einbringt, liegt die Quote in Europa etwa bei einem Hundertstel. Warum werden die Großkonzerne der Gegenwart –Google, Facebook, Alibaba – stets auf anderen Kontinenten gegründet? Weil es an einer Unternehmenskultur fehlt, in der denkende Mitarbeiter willkommen sind.

Will ich also behaupten, dass sich seit der Industrialisierung nichts getan hat? O doch, ein paar Fortschritte gibt es zu vermelden: Damals wurde unqualifizierten Arbeitskräften das Denken verboten – heute verbietet man es den qualifizierten. Damals sorgte das Fließband dafür, dass kein Mitarbeiter auf dumme (also: eigene) Ideen kam – heute besorgen das Richtlinien und Vorgesetzte. Damals gab es unmenschliche Arbeitszeiten – heute gibt es moderne Medien und unbezahlte Überstunden. Seit der Industrialisierung haben durchgedrehte Firmen einen großen Schritt gemacht. Leider in die falsche Richtung! (Martin Wehrle, 4.10.2018)