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Merkeldämmerung: In Berlin ist es einsam geworden um die Bundeskanzlerin. Sie ist in ihrer vierten Amtsperiode, ihre Macht schwindet.

Foto: REUTERS/Hannibal Hanschke

Die Lage war noch nie so ernst", so lautete ein geflügeltes Wort von Konrad Adenauer, mit dem der erste Nachkriegskanzler und Gründungsvater der CDU bisweilen seinen Bericht im Parteivorstand der Union einleitete. Die Bundeskanzlerin und Parteivorsitzende Angela Merkel könnte in diesen Tagen geneigt sein, es ihrem Vorgänger im Amt gleichzutun, allerdings ist sie für eine Neigung zu alarmistischen Formulierungen nicht bekannt. Viele Nachrichten, die wir in der letzten Zeit aus Berlin vernommen haben, enthalten bislang unbekannte Töne. Es begann mit der quälend langen Regierungsbildung nach den Wahlen vom 24. September letzten Jahres, die mit fast acht Monaten länger gedauert hatte als jede vorhergehende. Sodann sind heute im Deutschen Bundestag so viele Parteien vertreten, wie es seit den 1950er Jahren nicht mehr der Fall gewesen ist.

AfD und Missbehagen

Mit der AfD ist erstmals eine rechtspopulistische und integrationsfeindliche Partei mit unklarer Abgrenzung zum Rechtsextremismus in den Deutschen Bundestag eingezogen. Die AfD verdankt ihren Erfolg in erster Linie zwar dem Protest gegen die etablierten Parteien, doch aufgrund ihrer offenen rechten Flanke gibt sie auch international zu Missbehagen Anlass. Zur Verschiebung des politischen Spektrums gehört auch, dass seit 2005, seit dem Amtsantritt von Angela Merkel, große Koalitionen beinahe zum Regelfall geworden sind. Mittlerweile regiert sie zum dritten Mal (in ihrer vierten) Legislaturperioden in einer Großen Koalition.

Zum Vergleich: In den 15 Legislaturperioden davor fiel nur eine einzige, 1966 bis 69 unter Kanzler Kiesinger, in die Zeit einer großen Koalition. Korrelierend zu den Großen Koalitionen ist die Schwäche der Volksparteien. Vor allem die SPD hat zuletzt konstant an Zustimmung eingebüßt und ist nach neuesten Umfragen in der Wählergunst auf das gleiche Niveau wie die AfD gerutscht.

Kernproblem des gegenwärtigen Parteienverdrusses ist es, dass das Vertrauen in die Problemlösungskompetenz der Parteien deutlich abgenommen hat und Wahlverhalten zunehmend zum Protest genutzt wird. Der Austausch von Meinung und Gegenmeinung verläuft in der fragmentierten Medienwelt immer weniger in den klassischen Bahnen der parlamentarischen Demokratie.

Turbulenzen

Einem unvoreingenommenen Betrachter der gegenwärtigen Turbulenzen deutscher Politik könnte sich der Eindruck aufdrängen, dass die alten Lebensgesetze der Bundesrepublik ihre Gültigkeit eingebüßt haben. Lange Zeit konnten Berichte über die Lage in Deutschland mit der Kurzformel "Alles wie gehabt" zusammengefasst werden. Das informelle rheinische Motto der alten Bundesrepublik "Et hät noch immer jot jejange!" schien den Mauerfall überdauert und auch für das wiedervereinigte Deutschland zum Lebensgesetz geworden zu sein.

Die deutsche Gesellschaft ist seit jeher weitgehend homogen, schon in den 1960er Jahren wurde dafür das Wort "formiert" in die Debatte eingeführt, Veränderungen, wenn es denn überhaupt dazu kam, wurden behutsam orchestriert. Wohlstand für alle, die Suche nach Sicherheit, Mitbestimmung und Chancengleichheit waren die Zauberworte, die den scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg zunächst zum Wirtschaftswunderland und sodann zum europäischen Musterknaben und Exportweltmeister ermöglichten.

Im Jahr 2019 wird die Bundesrepublik ihren 70. Geburtstag feierlich begehen, und sie wird der 30. Wiederkehr des Mauerfalls im Jahr 1989 gedenken. Beide Ereignisse stehen wie "rochers de bronze" für die Grundorientierung des Landes. Bei offiziellen Anlässen und Feierstunden wird immer wieder gern an die Erfolgsgeschichte der geglückten Demokratie erinnert. Doch was davon wird in der Zukunft noch tragen? Das Gründungsjahr 1949 mit seiner Nähe zu den materiellen, geistigen und moralischen Verwüstungen von Drittem Reich und Zweitem Weltkrieg ist in weite Ferne gerückt. Der Mauerfall bleibt die einschneidende Zäsur der Nachkriegszeit in Deutschland, ein Geschenk der Geschichte und archimedische Punkt, von dem sich das heutige Deutschland in seiner geografischen, politischen und kulturellen Gestalt begreift.

In der Zwischenzeit ist die zweite deutsche Demokratie in die Jahre gekommen. Der stolze Blick fällt zurück auf die frühen Jahre, auf die sozialen und politischen Errungenschaften. Mit einem geschichtlich gewachsenen Nationalstolz freilich darf dies nicht verwechselt werden. Auch bei allen Anstrengungen: Die Bundesrepublik verfügt, anders als Frankreich oder Großbritannien, nicht über die Festigkeit einer ungebrochenen Tradition und einer in Jahrhunderten bewährten Verfassungspraxis, sie kann keine Gelassenheit aus der Beschäftigung mit ihrer Geschichte ableiten.

Stabilität

Die politische Entwicklung in Deutschland ist seit Begründung der BRD durch eine bemerkenswerte demokratische Stabilität gekennzeichnet. Die Kehrseite dieses Befundes besteht darin, dass tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen sich nur allmählich vollziehen, und es sicherlich nicht unbegründet immer wieder in der Geschichte der BRD zu Klagen über Status-quo-Orientierung, Blockadepolitik und Reformstau gekommen ist. Das alles überlagernde Thema Migration und die Forderungen des Tages in einer zunehmend unberechenbaren internationalen Politik sind geeignet, den Blick auf tiefere Kräfte der Geschichte als politische Gestaltungsaufgabe zu verstellen. Vielleicht sind die Deutschen heute so wenig bei sich selbst, weil sie spüren, dass sie in Umbruchzeiten leben und nicht wissen, was von den alten Gewissheiten auch in der Zukunft tragen wird.

Die innere Einheit war immer mehr als eine "Angleichung der Lebensverhältnisse". Sie bleibt zusammen mit der Anpassung an die Veränderungen der Globalisierung das große Globalthema der Bundesrepublik und ihrer Gesellschaft. Die Fähigkeit, auf Veränderungen schnell und umfassend zu reagieren, zählt bislang nicht zu den Stärken der deutschen Demokratie. Ohne Zweifel, die Deutschen von heute sind "normaler" geworden, sie sind damit zugleich auch "europäischer".

Die Suche nach Stabilität nach innen und nach außen war das übergeordnete Motiv deutscher Politik in den letzten 70 Jahren. Als Leitmotiv reicht es nicht mehr aus. Heute ist es vor allem das Ausland, das von Deutschland einen höheren Verteidigungsbeitrag oder mehr internationale Verantwortung einfordert, zugleich aber kritisch auf jeden Pendelausschlag, jede radikale Aufwallung mit Sorge vor einer Wiederkehr der Geschichte notiert. Geschichte und Zukunft miteinander in politischem Handeln in Einklang zu bringen, bleibt eine zentrale Herausforderung für das wiedervereinigte Deutschland.

Phönix Deutschland

Der Publizist Johannes Gross hatte einst, noch in der alten Bundesrepublik vor dem Mauerfall, den Weststaat mit einem Phönix in der Asche verglichen und prognostiziert, dass der Vogel eines Tages auch werde fliegen können. 1990 hat die Bundesrepublik mit der Wiedervereinigung ihre Bewährungsprobe bestanden und seitdem Flugtauglichkeit bewiesen. Die Kurz- und Mittelstrecke sind erfolgreich bewältigt; es ist zu wünschen, dass Phönix sich bald dazu aufschwingen, auch die Langstrecke zu bewältigen. (Ulrich Schlie, 2.10.2018)