Ein Spiegel, ein Sessel, vier Kleiderhaken und meist ein schiacher Teppich. Die Umkleidekabine ist ein einsamer, ein unwirklicher Ort. Hier ist man mit seinem Spiegelbild allein, es sei denn, die Freundin schlüpft noch mit hinein. Zugegebenermaßen ist das alles aber seit der Erfindung des Smartphones nur mehr halb so schlimm. Die Umkleide ist heute zwar immer noch kein schöner Ort, trotzdem werden hier unendlich viele Selfies gemacht: Ich in der neuen Hose? Schnell ein Foto, raus damit! Und dann schnelle Umfrage auf Whatsapp: Wie sehe ich aus, Daumen hoch oder runter?

Höchste Zeit also, an dieser Stelle den Selfie-Klassiker zu würdigen. Denn an kaum einem Ort macht das Selfie mehr Sinn als in der Umkleide. Mit dem Handy in der Hand holt man sich nicht nur die Welt hinter den Vorhang, das Selfie-Schießen kommt auch einem Akt der Selbstermächtigung gleich. Dem gnadenlosen Umkleidekabinenspiegel wird ein selbstgemachtes Foto entgegengehalten, mit Filtern, herrlich!

Mit der Freundin und dem Smartphone in der Umkleidekabine.
Foto: Getty Images/iStockphoto

Das ist natürlich keine allzu neue Beobachtung. Den Zauber des Selfies aus der Umkleidekabine haben schon vor zehn Jahren die Modeblogs eingefangen. Die Unschuld von damals mag von gestern sein, auf Instagram sind die Schnappschüsse trotzdem noch zu finden. Das ist verständlich. Das Selfie aus der Umkleidekabine vermittelt in den sozialen Netzwerken eine Nähe, wie sie sonst nur mit der besten Freundin geteilt wird. Und: Es kokettiert mit all den Selbstzweifeln, die Frauen und Männer im Angesicht des Spiegels in der Umkleide überfallen.

Nicht umsonst haben in den letzten Jahren Beschwerden verzweifelter Kundinnen ("Das Kleid, das ich auf diesen Fotos trage, ist Größe 44, und ich konnte kaum darin atmen!") in den sozialen Netzwerken mit Fotos aus der Umkleidekabine eine Schlagkraft entwickelt, die ihresgleichen sucht.

Von den echten Social-Media-Profis aber werden sie aus anderen Gründen eingesetzt. Selfies aus der Umkleide haben es auch deshalb zum Klassiker gebracht, weil sie Klicks generieren.

Das weiß kaum eine so gut wie Kim Kardashian. Wenn sie in Unterwäsche posiert und davon ein Foto macht, kommt das kommt fast so gut an wie ihre Babyfotos. Da kann das Selfie noch so inszeniert aussehen. (Anne Feldkamp, 4.10.2018)