Das berühmte Holstentor, das heutige Wahrzeichen Lübecks, stammt aus dem 15. Jahrhundert. Zu Zeiten der nun festgestellten Ernährungsumstellung gab es nur ein schlichter gehaltenes Stadttor, das aber denselben Namen trug – weil es der Region Holstein zugewandt war.

Foto: APA/AFP/dpa/CARSTEN REHDER

Oxford – Irgendwann um das Jahr 1300 haben sich in der Hansestadt Lübeck die Ernährungsgewohnheiten geändert. Standen zuvor vor allem Süßwasserfische auf dem Speiseplan, so kam danach zunehmend das Essen von Rindfleisch in Mode. Was diesen Trendwechsel ausgelöst hat – ob steigende Verschmutzung der Flüsse oder eine Zunahme des Wohlstands – ist aber noch nicht geklärt.

Stuhlproben

Spannend ist die Methode, mit der Wissenschafter diesen Trend rekonstruieren konnten. Statt auf Aufzeichnungen aus historischen Chroniken griffen die Forscher um Adrian Smith von der University of Oxford nämlich auf Analysen erhalten gebliebenen Kots der mittelalterlichen Bewohner Lübecks zurück – genauer gesagt auf die darin enthaltenen Bandwurmeier. Die Forscher stellten ihre Studie im Fachmagazin "Proceedings B" der britischen Royal Society vor.

Grundsätzlich ist die genetische Untersuchung von altem Kot nicht neu. Bisher sei sie aber hauptsächlich auf Einzelproben angewendet worden – und eher, um die Erreger von Krankheite wie Pest, Lepra, Pocken, Malaria oder Tuberkulose zu finden. "Im Gegensatz dazu haben die Darmwürmer (Helminthen) keine verheerenden klinischen Wirkungen und die Eier sind in einer Vielzahl von archäologischen Umfeldern, die mit dem menschlichen Fäkalmaterial in Zusammenhang stehen, leicht nachweisbar", berichten die Forscher.

Die Analyse

Das Team um Smith untersuchte deutsche Kotproben aus Lübeck und Ellwangen, englische aus Bristol und York, schweizerische aus Zürich (Schweiz) und tschechische aus Breclav-Pohansko. Die Proben stammten überwiegend aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit, nur diejenigen aus Zürich waren bis zu 5.600 Jahre alt.

Über eine Genanalyse bestimmten die Forscher anschließend, welche Arten von parasitischen Würmern hier ihre Eier hinterlassen haben. Spulwürmer (Ascaris lumbricoides) und Peitschenwürmer (Trichuris trichiura), die beide zu den Fadenwürmern gehören, wurden in Proben aus allen Orten gefunden.

Fokus auf Lübeck

Besondere Aufmerksamkeit schenkten die Wissenschafter den umfangreichen Proben aus Lübeck, die bei Grabungen im Gründungsviertel gefunden worden waren. Darin fanden sie in großer Zahl Eier des Fischbandwurms (Diphyllobothrium latum) und des Rinderbandwurms (Taenia saginata). Allerdings war der Fischbandwurm vor dem Jahr 1300 sehr viel stärker verbreitet als danach; beim Rinderbandwurm war es genau umgekehrt.

Die Forscher folgerten daraus, dass die Nutzer der Latrinen etwa ab 1300 weniger Süßwasserfische und mehr Rindfleisch gegessen haben. Zudem müssen sie Fisch und Fleisch roh oder nur wenig gekocht gegessen haben, sonst hätten sie sich nicht mit dem Wurm infizieren können.

Interpretationen

Wie der Wechsel in den Lübecker Ernährungsgewohnheiten zustande gekommen ist, dazu gibt es in der Geschichtsforschung nur wenige Anhaltspunkte. Ein möglicher Grund könnte die Erweiterung Lübecks gewesen sein, durch die der Fluss Wakenitz durch die Produktion von Fleisch und Leder zunehmend verschmutzt wurde. Möglicherweise seien die Fische infolgedessen nicht mehr attraktiv gewesen.

Denkbar ist auch, dass durch die Verschmutzung die Ruderfußkrebse, die als Zwischenwirt des Fischbandwurms dienen, stark reduziert wurden. Schließlich könnte auch der zunehmende Reichtum der Hansestadt dazu geführt haben, dass sich mehr Familien Rindfleisch leisten konnten.

Verkehrsknotenpunkt auch für Parasiten

Von den untersuchten Orten fanden sich neben Lübeck nur in Bristol Hinweise auf eine Ernährungsumstellung. Auch war die genetische Vielfalt der Band- und Fadenwürmer in Lübeck sehr viel größer als in den anderen Städten. Die Forscher bringen das in Zusammenhang mit dem regen Warenverkehr der Handelsstadt, mit dem auch mehr Parasiten aus anderen Orten in die Stadt gekommen seien. "Parasitendiversität könnte als ein Marker für das Ausmaß des Austausches, die ein bestimmter Ort mit anderen Regionen hatte, nützlich sein", schreiben Smith und Kollegen.

Dass früher viel rohes oder wenig gekochtes Fleisch gegessen wurde, hatte schon früher ein Team um Martin Soe von der Universität Kopenhagen herausgefunden. In einer Studie, die im April veröffentlicht wurde, schlossen die Forscher aus den von ihnen untersuchten Parasiteneiern, dass in Nordeuropa vor allem Fisch und Schweinefleisch gegessen wurde. Auch ergaben sich Hinweise darauf, dass Schafe, Pferde, Hunde und Schweine als Nutztiere gehalten wurden oder zumindest in der Nähe der Menschen lebten. (APA, red, 1. 10. 2018)