Autorin Susanne Röckel.

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Susanne Röckel, "Der Vogelgott". € 22,- / 272 Seiten. Jung und Jung, Salzburg 2018

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In einer Welt ohne Gewissheiten ist die Sprache vielleicht die letzte Instanz, der man vertrauen kann. Hier zeigt sich, was die Menschen wirklich glauben, auch wenn es gelegentlich der Deutung bedarf. Zum Beispiel diese Redewendung: Jemand hat einen Vogel. So sagt man, wenn jemand nicht ganz bei Trost ist (auch das schon wieder vielsagend).

Einen Vogel zu haben (oder auch gelegentlich: eine Meise), das sagt man schnell einmal so dahin, manchmal zeigt man auch jemandem den Vogel, der an die Stirn getippte Zeigefinger ist (neben dem Scheibenwischer) ein unmissverständliches Zeichen dafür, dass man jemandem die Zurechnungsfähigkeit abspricht.

Wer einen Vogel hat, ist kein "selbstgewisses Mitglied der Gesellschaft", wie das einer der Erzähler in Susanne Röckels Der Vogelgott definiert. Er heißt Thedor, von der Grundeinstellung eines verbummelten Studenten kommt er nie so richtig los, spannend wird es für ihn (und mit ihm) erst, als er eine Art Berufung erlebt.

"The horror" der Fremde

Er lässt sich in ein afrikanisches Land engagieren, an einen Ort namens Kiw-Aza (was übersetzt bedeutet: hier ist Aza). In der Fremde erlebt er etwas, was Joseph Conrad einmal ganz einfach als "the horror, the horror" bezeichnet hat und was bei dem Fantasten H. P. Lovecraft oft "unsagbares Grauen" heißt. Eine Erfahrung von Negativität, die wohl etwas mit konkreten Umständen zu tun hat, die aber auf etwas Grundstürzendes hinausläuft: Die Selbstgewissheit, ohne die man es in der Welt schwer hat, geht verloren. Man gerät in andere Zustände.

In Der Vogelgott sind es drei Geschwister, die auf jeweils unterschiedliche Weise in den Bann von Erscheinungen geraten, die schon ihren Vater beschäftigt haben: Es geht dabei immer um einen riesigen Vogel, um einen Greif, wobei Susanne Röckel geschickt im Unklaren lässt, ob es sich dabei um eine Projektion oder um etwas Realitätshaltiges handelt.

Beklemmender Sog

Der Greif ist der "ungreifbare Schatten", dem dieses Buch virtuos hinterherfantasiert. Es sind vier Erzählungen, in vier unterschiedlichen Tonlagen und mit vier unterschiedlichen Genrebezügen, die Röckel zusammenfügt: Vom Vater, einem Tierpräparator, ist ein Manuskript überliefert, das man am ehesten als einen Expeditionsbericht lesen kann, getragen von der Selbstgewissheit eines Wissenschaftlers, naturgemäß ist es damit nicht weit her.

Von Thedor gibt es einen Abenteuerroman von undeutlich (post)kolonialem Hintergrund, von seiner Schwester Dora gibt es einen kunsthistorischen Krimi um einen fiktiven Maler, der im Dreißigjährigen Krieg ein Zeugnis von einem entsetzlichen Ereignis hinterlassen hat, das hinter einem Marienbildnis versteckt sein könnte. Das letzte Wort hat ein Journalist: Lorenz, der Älteste der Geschwister. Für ihn könnte sich alles zu einer Reportage fügen, von der man sich eine Auflösung erwartet, aber auch er fällt unter den Bann von Vorstellungen, die man im weitesten Sinn einer archaischen Form von Religiosität zuschreiben könnte, oder aber einer Gegenreligion, einer Gewaltverschwörung, die alles umgreift.

Opfer und Ausbeutung

Röckel verbindet im letzten Teil eine alte Opfertheologie mit modernen Entfremdungs- und Ausbeutungsszenarien, man kann sich an verschiedenen Stellen an aktuelle Phänomene erinnert fühlen, wird aber niemals den Finger genau auf eine Stelle legen können. Denn Der Vogelgott ist eben ein Roman, und zwar ein großer, und das heißt, dass es letztendlich um die Souveränität von Literatur gegenüber verwandten Formen geht: Religion, Psychologie, Politik, das ist alles gegenwärtig, sogar in höchst reflektierter Form.

Aber Susanne Röckel erschafft mit den Mitteln der Sprache einen eigenen Zustand: einen beklemmenden, faszinierenden Sog, der in den besten Momenten an die Höhepunkte abendländischer Mystik erinnert, dabei aber immer um die Abgründe der Schauermärchen (bis zu heutigen Fake-News) weiß. Dieser Roman hat einen Vogel, aber er ist ganz bei Trost. (Bert Rebhandl, 6.10.2018)