Inger Maria Mahlke, "Archipel". Roman. € 20,60 / 232 Seiten. Rowohlt, Reinbek 2018

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Autorin Inger Maria Mahlke.

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Der Schmerz, die Erinnerung, Lebensverwicklungen, Momente des Glücks: Nichts von alldem vergeht, alles bleibt in Inger Maria Mahlkes Roman Archipel. Auch jeder Börsencrash, "jede Hungersnot, jeder gewaltsam niedergeschlagene Aufstand" haben sich in diesem Roman auf die Festplatten der Seelen gebrannt. Und zwar mit Auswirkungen auch auf folgende Generationen.

Die 1977 geborene Inger Maria Mahlke, die Rechtswissenschaften studierte, an der FU Berlin am Lehrstuhl für Kriminologie arbeitete und sich spät, dafür aber umso ernsthafter für das Schriftstellerleben entschied, lässt ihren Roman mit dem Ende beginnen. Einem in der Gegenwart liegenden Ende, von dem aus sie hundert Jahre zurück in die Tiefen einer Vergangenheit blendet, die nicht vergehen will.

Ort der Handlung ist die Kanareninsel Teneriffa, wo Mahlke – ihre Mutter ist Spanierin – Teile ihrer Kindheit verbrachte. Hier treffen wir gleich zu Beginn des Romans auf einen rüstigen 95-Jährigen. Sein Name ist Julio Baute, doch im Asilio, dem Altersheim, rufen sie ihn "il Portero". Letzteres, weil er die Ausgangstür des Heims zum Schutz seiner Bewohner wie Zerberus bewacht, falls er nicht gerade die Liveberichterstattung der Tour de France im Fernseher verfolgen muss.

Dieser Julio ist der Vater von Ana, einer hochrangigen, für den Tourismus auf der Insel zuständigen Politikerin, die gegen eine künstliche Insel kämpft, die ein US-amerikanisches Konsortium zwanzig Seemeilen vor der Küste an einer flachen Stelle des Ozeans aufschütten möchte.

Am Faden der Erzählerin

Ana gehört zu den entschiedenen Gegnerinnen des Projekts, ihre Kollegen indes stimmen dafür. Als der Sprecher für Infrastruktur dann bei einem seltsamen Unfall zu Tode kommt, scheint Mahlkes Roman Richtung Krimi abzubiegen.

Gekonnt aber zieht die Autorin von dieser perfekt exponierten Geschichte aus an ganz anderen Erzählfäden, indem sie in drei verschiedene Familiengeschichten abschweift, die anfänglich nur angedeutet werden. Im Verlauf des Buches, das mit der Geburt jenes Julio il Portero im Jahr 1919 endet, wird einem als Leser dann manches klar.

Kunstvoll und mittels verschiedener Zeit- und Erzählperspektiven führt Mahlke den Leser in Archipel in das Labyrinth dreier Familiengeschichten, die drei verschiedene Klassen repräsentieren. Da sind einmal die aristokratischen Bernadottes, Franco-freundliche Kolonialisten, nach denen auf der Insel 16 Straßen, drei Plätze und ein halbes Dutzend Schulen benannt sind. Weiters sind da die Bautes, Vertreter des Mittelstands, die die Sozialisten unterstützen, sowie die deklassierte Familie Morales.

Familie als Schicksal

Die Schicksale dieser drei Clans sind auf vielerlei Weise verknüpft. In Rosa, Anas Tochter, der jüngsten Figur im Buch, bündeln sie sich. Rosas Vater, Felipe, ist ein Bernadotte, die Mutter Ana eine Baute und ihr Kindermädchen Eulalia eine Morales.

Obwohl die Autorin immer wieder spanische Geschichte thematisiert, vor allem den Kolonialismus und die Machtübernahme Francos, der einst nach Teneriffa strafversetzt wurde und von dort aus den zweiten Staatsstreich 1936 organisierte, geht es in diesem Roman nicht um Äußeres. Mehr interessieren die Autorin in diesem Buch jene unsichtbaren Fäden der Herkunft, des Schicksals und der Geschichte, die jedes Leben (mit)bestimmen.

Stark ist Inger Maria Mahlkes ruhig erzählter Roman, wenn es um Atmosphäre geht, die diese Autorin in seltener Dichte zu schaffen vermag. Auch der Ansatz, Weltgeschehen und Geopolitik en miniature auf eine Insel weit weg vom politischen Zentrum zu projizieren, funktioniert nicht schlecht. Trotzdem verliert der Roman gegen Ende in seinen historisierenden Passagen an Dichte und Stringenz – und es beschleicht einen das Gefühl, dass auch die Autorin an manchen Figuren das Interesse verloren hat. (Stefan Gmünder, 6.10.2018)