Nino Haratischwili, "Die Katze und der General". € 30,- / 750 Seiten. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2018

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Autorin Nino Haratischwili.

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Vor vier Jahren landete die gebürtige Georgierin Nino Haratischwili mit Das achte Leben einen Bestseller. Nun widmet sich die 35-Jährige in Die Katze und der General den wilden Jahren nach dem Zerfall der UdSSR. Den Jahren der Anarchie, als Vory, die "Verbrecher im Gesetz", das Ruder übernahmen.

Onno Bender, investigativer Journalist aus Berlin, hat über einen von ihnen, den "General", jede Menge Material gesammelt. Obendrein ist er mit ihm persönlich verstrickt, über dessen Tochter Ada nämlich. Dieser General heißt Alexander Orlow und zog 1995 als junger russischer Soldat in den Tschetschenienkrieg.

Traum von einem anderen Leben

Um diesen General, der heute in Berlin lebt, webt Haratischwili ihre Geschichte. In einem abgelegenen tschetschenischen Tal, "wo noch die Gesetze der Ahnen herrschen", lebt die wunderschöne, 18-jährige Nura. Diese träumt von einem anderen Leben hinter den hohen Bergen und schaut Telenovelas. Bis es eines Tages heißt: "Hast du noch nichts gehört? Die Russen ..." Der Krieg hat begonnen.

Der General und drei seiner Kameraden werden sie vergewaltigen, foltern und töten. Das Verbrechen wird sogar angeklagt, aber zu einem Urteil kam es nie. Der General ging frei und wurde zu einem der reichsten Russen, doch diese Schuld ließ ihn nie los. Seine Tochter Ada forderte "so etwas wie Rechenschaft", sie wollte, "dass er seine Unschuld vor der ganzen Welt bewies". Dann brachte sie sich um. Nun will Orlow selbst "die Männer aufsuchen, die mit ihm bei dem Einsatz dabei waren, er will die offenen Rechnungen von damals begleichen".

Auf einem Plakat in Berlin entdeckt er das Gesicht einer georgischen Theaterschauspielerin, genannt "die Katze" (und selbstverständlich spielt sie gerade in Antigone). Sie sieht der ermordeten Nura verblüffend ähnlich. Dem General schwebt nun vor, sie gegen gutes Geld für ein Video zu engagieren, das er seinen Mittätern zukommen lassen möchte.

Wozu? Die Frage bleibt offen

Die Autorin webt ein Netz unzähliger Figuren, die ihrerseits wieder jeweils Mutter, Vater, Tante, Oma haben, die sich ständig an irgendetwas "erinnern". "Was soll das Ganze?", fragt die Autorin einmal selbst. "Wozu diese ganze Erinnerungsflut?" Diese Frage beantwortet sie bis zum dramaturgisch unbefriedigenden Ende nach zähen 750 Seiten nicht. Spätestens beim abschließenden russischen Roulette steht fest: Die Autorin hat sich mit diesem Buch schwer verhoben. "Sie lernte immer tollkühnere, schrillere Geschichten zu erfinden", schreibt sie über ihre tote Heldin Nura, an dieser Vorgabe nahm sie ebenfalls Maß. Der Thrillerplot knirscht gewaltig, alles funktioniert nach dem Motto: "So viel Glück konnte ich unmöglich haben!"

Wirklich ärgerlich ist die Sprache, die Dialoge haben durchwegs Telenovelaniveau (",Küss mich!', fauchte sie ihn an.") Hingegen gibt es keinen einzigen irgendwie "normalen" Charakter: Malisch, den jungen Soldat, lässt sie überlegen, ob er nicht "nach dem Krieg neben Deutsch und Englisch vielleicht noch Französisch in Angriff nehmen" könnte, und so "nebenbei, ohne Druck, könne er sich in Homer, Shakespeare, Dante und Vergil vertiefen, die Nibelungensage und Minnesang studieren, aber vor allem das Gilgameschepos, das ihn so fasziniert".

Überhaupt scheint in diesem Buch jeder Zweite "immer schon poetisch veranlagt". Väter brachten ihren Töchtern "grundlegende Maltechniken bei", egal in welch abgelegenem Tal sie auch hausten. Eine russische Lehrerin tingelt vor dem Krieg mit einem VHS-Player durch den Kaukasus, "einem Gefühl oder einer Hoffnung auf der Spur", und begeistert die Kinder mit Visconti-Filmen (und nicht etwa mit Harry und Sally). Die Himmelsmethapern lassen sich am Ende nicht mehr zählen, jedenfalls schaut immer irgendjemand hinauf. Die Autorin war beim Schreiben offenbar "einem Gefühl oder einer Hoffnung auf der Spur". Den nüchternen Blick eines Warlam Schalamov hat sie in all dem Kitsch verloren. (Manfred Rebhandl, 6.10.2018)